DIE STERBENDE ERDE
Tränen rollten über ihre Wangen.
Mit hängendem Kopf begann sie über die Flechten der Tundra zu schreiten, und Guyal eilte ihr nach.
Nun gab es kein Zurück mehr. Eine Weile noch hörten sie einzelne Worte, dann nur noch ein Gemurmel hinter sich, und schließlich umgab sie tiefe Stille. Sie waren allein auf der Steppe. Der nördliche Horizont war weit, Tundra umgab sie ringsum, eine schier endlose Ebene, öde und trostlos, die nur von den weißen Ruinen – einst das Museum der Menschheit –
unterbrochen wurde. Schweigend folgten sie dem kaum sichtbaren Pfad, der darauf zuführte.
Nach einer langen Weile murmelte Guyal. »Es gibt so viel, das ich gern wissen möchte.«
»So fragt«, forderte Shierl ihn auf. Ihre Stimme war leise, aber beherrscht.
»Weshalb wurden wir zu dieser Mission gezwungen?
Warum stieß man Euch, die Ihr doch eine Saponidin seid, aus Eurer Stadt aus?«
»Das geschah, weil es immer so geschehen ist. Ist das nicht Grund genug?«
»Ausreichend vielleicht für Euch«, brummte Guyal. »Aber für mich ist diese Kausalität nicht überzeugend. Ich muß Euch auf eine gewisse Leere in meinem Gehirn aufmerksam machen, die nach Wissen dürstet wie ein Egel nach Blut. Verzeiht und zeigt Geduld mit mir, wenn Euch meine Fragen unnötig scheinen.«
Sie musterte ihn erstaunt. »Sind alle im Süden so wißbegierig wie Ihr?«
»In keiner Weise«, versicherte ihr Guyal. »Überall herrscht die Normalität des Geistes vor. Die Menschen folgen den gleichen Maßstäben, die gestern, vergangene Woche, vor einem Jahr, ja so lange sie sich zurückerinnern können, gültig für sie gewesen sind. Man hat mich über meine Andersartigkeit voll und ganz aufgeklärt. >Weshalb das Wissen eines Pedanten sammeln?< fragte man mich. >WeshaIb suchen und forschen?
Die Erde erkaltet! Die Menschheit liegt in den letzten Zügen!
Weshalb also Vergnügen, Musik und Fröhlichkeit' für Abstraktes und Abstruses eintauschen?<«
»Richtig«, murmelte Shierl. »Ihr Rat ist vernünftig. Auch in Sapons ist man dieser Ansicht.«
Guyal zuckte die Achseln. »Man sagt, ein Dämon habe mir die Sinne verwirrt. Das mag sein. Auf jeden Fall bleibt die Tatsache, daß ich besessen bin von einem unstillbaren Drang nach Wissen.«
Shierl nickte verständnisvoll und empfand Mitleid mit ihm.
»So fragt. Ich werde mich bemühen. Euer Verlangen, soweit es mir möglich ist, ein wenig zu stillen.«
Er sah sie von der Seite an, betrachtete die bezaubernde Herzform ihres Gesichts, das schwarze Seidenhaar, die großen, glänzenden Augen, so dunkel wie Yusaphire. »Unter glücklicheren Umständen gäbe es noch andere Verlangen, die nur Ihr mir stillen helfen könnt«, murmelte er.
»Fangt an zu fragen«, forderte sie ihn auf. »Das Museum der Menschheit ist nicht mehr fern. Für anderes als Worte bleibt uns keine Zeit.«
»Also gut. Weshalb verbannte man Euch, obwohl man offenbar überzeugt ist, Euch in Euer Verderben zu schicken?«
»Der unmittelbare Grund ist der Geist, dem Ihr auf dem Berg begegnet seid. Wenn er erscheint, wissen wir von Sapons, daß die schönste Maid und der bestaussehnde Jüngling der Stadt zum Museum der Menschheit gesandt werden müssen. Über den Ursprung dieser Sitte ist nichts bekannt. Es ist so, es war so, und es wird so bleiben, bis die Sonne wie Glut im Regen erlischt und der Wind Sapons unter Schnee begräbt.«
»Aber was ist unsere Mission? Wer wird uns auf unser Pochen einlassen? Was geschieht dann mit uns?«
»Auch auf diese Einzelheiten weiß niemand Antwort.«
Guyal überlegte. »Die Möglichkeit, daß uns Erfreuliches erwartet, scheint mir gering… Es bestehen Unstimmigkeiten.
Ihr seid, über allen Zweifel, die liebreizendste Tochter der Saponiden, ja das bezauberndste Geschöpf der ganzen Welt –
aber ich, ich, ein zufälliger Fremder und sicher nicht der bestaussehende Jüngling der Stadt…«
Sie lächelte ein wenig. »Ihr seht gewiß nicht schlecht aus.«
Guyal sagte ernst. »Selbst wenn wir mein Aussehen nicht in Betracht ziehen, bleibt die Tatsache, daß ich ein Fremder für euch bin. Aber ich glaube gerade deshalb… Mein Verlust wird niemanden hier schmerzen.«
»Dieser Aspekt wurde zweifellos bedacht«, gestand das Mädchen.
Guyal blickte zum fernen Horizont. »Laßt uns einen Bogen um das Museum der Menschheit machen. Laßt uns diesem unbekannten Geschick entfliehen und zu den Bergen eilen und von dort südwärts nach Ascolais. Mein Durst nach Wissen ist angesichts unseres zweifellos
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