DIE STERBENDE ERDE
Eure Strafe!« donnerte der Vogt. Guyal blickte links, blickte rechts, hinter sich und geradeaus. Aber er stand in der Mitte des Stadtplatzes, umringt von den wackeren Männern Sapons'.
»Wann muß diese Sühne durchgeführt werden?« fragte er beherrscht.
Hörbar verbittert erwiderte der Vogt: »In diesem Augenblick schon kleidet sich Shierl in Gelb. In einer Stunde wird sie bereit sein. In einer Stunde werdet ihr euch auf den Weg zum Museum der Menschheit machen.«
»Und dann?«
»Und dann – was dann geschieht, ob gut oder böse, ist nicht bekannt. Es wird euch ergehen wie dreizehntausend anderen vor euch.«
Herab vom Stadtplatz, die mit Laub bedeckten Wege von Sapons hinab, schritt Guyal, gereizt, die Lippen zusammengepreßt, obgleich ein schwerer Klumpen in seinem Magen zu liegen schien und ihm das Wams am Rücken klebte.
Das Ritual verhieß nichts Gutes: Hinrichtung oder Opferung.
Unwillkürlich blieb er stehen.
Der Vogt packte ihn rauh am Ellbogen. »Weiter! Marsch!«
Hinrichtung oder Opferung… Die Gesichter entlang des Wegs schienen ihm von morbider Neugier und innerer Aufregung erfüllt. Schadenfrohe Augen musterten ihn, genossen seine Angst und sein Grauen. Die Lippen waren halb zu einem erfreuten Lächeln geöffnet, daß nicht sie, die am Wegrand Stehenden, es waren, die zum Museum der Menschheit pilgern mußten.
Nun lag die Anhöhe mit den hohen Bäumen und den dunklen, geschnitzten Holzhäusern hinter ihm. Sie traten hinaus in den roten Sonnenschein der Tundra. Achtzig Frauen in weißen Gewändern mit eimerförmigen Zeremonienhüten aus geflochtenem Stroh standen um ein hohes Zelt aus gelber Seide.
Der Vogt hielt Guyal an und gab der Zeremonienmatrone einen Wink. Sie schlug den Vorhang der Zeltöffnung zurück.
Das Mädchen im Innern, Shierl, kam zögernden Schrittes, die Augen dunkel und geweitet vor Angst, heraus.
Sie trug ein steifes Gewand aus gelbem Brokat, und ihre Haltung war nicht weniger steif. Das Gewand reichte vorn bis dicht ans Kinn, ließ ihre Arme frei, und hob sich am Rücken über den Kopf hinaus zu einer starren, spitzen Kapuze. Sie war so verängstigt wie ein in der Falle sitzendes Mäuschen. Sie starrte Guyal und ihren Vater an, als hätte sie sie nie zuvor gesehen.
Die Zeremonienmatrone legte sanft eine Hand um ihre Taille und schob sie vorwärts. Shierl machte zwei Schritte, drei Schritte, dann blieb sie zögernd stehen. Der Vogt brachte Guyal heran und hieß ihn, sich neben die Verängstigte zu stellen. Jetzt eilten zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, mit Trinkschalen herbei, die sie Guyal und Shierl anboten.
Stumpf nahm Shierl die ihre entgegen. Guyal griff nach der seinen und betrachtete mißtrauisch das trübe Gebräu. Dann blickte er zu dem Vogt hoch. »Welcher Art ist dies?«
»Nehmt ihn zu Euch«, forderte der Saponide ihn auf, »dann wird Euer Weg Euch kürzer scheinen, Ihr werdet die Angst zurücklassen und mit festerem Schritt zum Museum der Menschheit marschieren.«
»Nein«, weigerte sich Guyal. »Ich werde ihn nicht trinken.
Meine Sinne müssen klar und scharf sein, wenn ich vor dem Kurator stehe. Ich bin einen weiten Weg für dieses Privilegium gekommen und möchte mir diese Gelegenheit nicht deshalb entgehen lassen, weil meine Sinne getrübt sind.« Er gab dem Jungen die Trinkschale zurück.
Shierl starrte stumpf auf die ihre. Guyal empfahl ihr: »Ich rate Euch, trinkt nicht. So werden wir das Museum der Menschheit erreichen, ohne uns selbst unserer Würde beraubt zu haben.«
Zögernd gab sie die Schale zurück. Der Vogt zog finster die Brauen zusammen, aber er protestierte nicht.
Ein Greis in schwarzem Gewand kam mit einem Satinkissen herbei, auf dem eine Peitsche mit feingeschmiedetem Eisengriff lag. Der Vogt ergriff sie, holte damit aus uns strich dreimal leicht über die Schultern Shierls und Guyals.
»Nun befehle ich euch, zieht von hinnen, für immer und alle Zeit aus Sapons verbannt, ausgestoßen aus der menschlichen Gesellschaft. Sucht Asyl im Museum der Menschheit. Ich sage euch, wagt nicht, zurückzublicken, laßt jeden Gedanken an Vergangenheit und Zukunft hier im Nordgarten zurück.
Jetzt und für alle Zeit seien für euch alle Bande durchtrennt.
Ihr habt keinen Anspruch mehr auf Verwandtschaft, Liebe, Zuneigung, Freundschaft und Bruderschaft von und zu den Saponiden von Sapons. Hebt euch hinfort! Ich befehle euch: Geht! Geht! Geht!«
Shierl biß die Zähne tief in die Unterlippe. Kein Laut drang aus ihrem Mund, aber die
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