DIE STERBENDE ERDE
Portal.«
Guyal atmete tief, neigte den Kopf und schritt darauf zu.
»Wir wollen es hinter uns bringen und sehen…«
Das Portal befand sich in einem Monolithen. Es war eine Tür aus stumpfschwarzem Metall. Guyal folgte dem Pfad zu dieser Tür, dann schlug er entschlossen mit der Faust auf den kleinen Kupfergong daneben.
Die Tür knarrte heftig in den Angeln. Ein kühler Luftzug, der nach unterirdischem Gemäuer roch, strich ihnen entgegen.
Ihre Augen konnten die gähnende Schwärze nicht durchdringen.
»Hallo, Ihr da drinnen!« rief Guyal.
Eine weiche, zitternde Stimme, die klang, als hätte man sie beim Weinen gestört, forderte sie auf: »Kommt herein! Tretet ein! Ihr werdet freudig erwartet.«
Guyal steckte den Kopf in die Dunkelheit und versuchte, etwas zu erkennen. »Macht Licht, damit wir den Weg nicht verfehlen und etwa gar in die Tiefe stürzen.«
Mit fast atemlosen Zittern sagte die Stimme: »Ihr benötigt kein Licht, denn wohin ihr auch tretet, das ist euer Weg. So hat der Große Wegemacher es bestimmt.«
»Nein«, weigerte sich Guyal. »Wir wollen das Antlitz unseres Gastgebers schauen. Wir kommen auf seine Einladung hin. Das Mindeste an Gastlichkeit, das wir von ihm erwarten können, ist Licht. Ohne Licht setzen wir nicht Fuß in dieses Verlies. Wisset, daß wir als Sucher der Erkenntnis kommen, als solche müßt Ihr uns ehren.«
»Ah, Erkenntnis, Erkenntnis«, hauchte die traurige Stimme.
»Sie soll euer sein, in vollem Maße – ihr werdet unvorstellbares Wissen erlangen. Ihr werdet in einem See der Weisheit schwimmen…«
Guyal unterbrach die melancholische Stimme. »Seid Ihr der Kurator? Hunderte von Meilen bin ich gekommen, um ihn zu sprechen und um die Beantwortung meiner Fragen zu bitten.
Seid Ihr dieser?«
»Nein! Nein! Ich schmähe ihn als verruchte Unwesentlichkeit.«
»Wer seid Ihr dann?«
»Ich bin niemand, nichts. Ich bin ein Abstraktum, eine Emotion, das Zittern aus Grauen, der Angstschweiß, die Erschütterung in der Luft, wenn ein Schrei erschallt.«
»Ihr sprecht mit der Stimme eines Menschen.«
»Warum auch nicht? Was ich spreche, liegt in den tiefsten Winkeln des menschlichen Geistes versteckt.«
Guyal sagte schwach: »Eure Einladung klingt nicht sehr verlockend.«
»Das tut nichts zur Sache. Ihr habt keine Wahl. Ihr müßt eintreten, herein in die Finsternis, und zwar sofort, da mein Herr, der ich selbst bin, ungeduldig wird.«
»Wenn Ihr Licht macht, treten wir ein.«
»Kein Licht, keine unerwünschte Fackel ist im Museum der Menschheit zu finden.«
»In diesem Fall«, erklärte Guyal und zog seinen leuchtenden Dolch aus der Scheide, »werde ich eine willkommene Reform einführen. Denn seht, nun ist Licht!«
Ein Strahlen verbreitete sich aus dem Dolchgriff. Es fiel auf den riesigen Geist vor ihnen. Er kreischte und löste sich in glitzernde Staubkörnchen wie von pulverisiertem Lametta auf, von denen einige noch ein Weilchen in der Luft schwammen.
Shierl, die den Atem angehalten und wie erstarrt neben Guyal gestanden hatte, holte erleichtert Luft und taumelte gegen ihren Begleiter. »Woher habt Ihr nur den Mut genommen, ihm so entgegenzutreten?«
Guyal erwiderte mit halb lachender, halb bebender Stimme:
»Ich muß gestehen, ich weiß es selbst nicht… Vielleicht kann ich nicht glauben, daß die Nornen mich aus dem geliebten Sfere durch Wald und Fels in diese nördliche Öde schicken würden, nur um hier als zitterndes Opfer eines Geistes zu enden. Und weil ich ein so unerfreuliches Geschick für mich unmöglich halte, bin ich kühn.«
Er schwenkte den Dolch nach rechts und links, da sahen sie, daß sie am Tor eines aus dem Fels gehauenen Wachthauses standen, in dem eine Falltür offenstand. Guyal kniete sich daneben nieder und lauschte.
Nichts, nicht der geringste Laut war zu hören. Shierl kauerte hinter ihm. Ihre Augen waren so schwarz und tief wie der Abgrund unter ihm. Sie erinnerte Guyal, der sich zu ihr umdrehte, an eine Elfe alter Zeit – ein zartes, anmutiges Geschöpf, voll Charme, blaß, liebreizend und lauter.
Er hielt den Dolch über die Öffnung und beugte sich darüber. Im steilen Zickzack führte eine abgetretene Treppe in unvorstellbare Tiefe, und der Schatten der Stufen ließ sie düster und geheimnisvoll erscheinen, daß er unwillkürlich zurückzuckte.
»Was nun?« fragte Shierl.
Guyal erhob sich und drehte sich zu ihr um. »Wir sind im Augenblick hier unbeobachtet, doch aus verschiedenen Gründen gezwungen, weiter einzudringen.
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