DIE STERBENDE ERDE
sie ihn.
»Nein«, erwiderte er. »Der Himmel der Erde ist von einem tiefen Blau, und eine sehr, sehr alte rote Sonne wandert darüber. Wenn die Nacht einbricht, glitzern Sterne darauf, in einem Muster, das ich dir noch zeigen werde. Embelyon ist schön, aber die Erde ist groß und weit, ihr Horizont reicht in rätselhafte Fernen. Sobald es Pendelume recht ist, kehren wir zur Erde zurück.«
T'sain schwamm gern im Fluß. Manchmal leistete Turjan ihr Gesellschaft und plantschte mit ihr herum. Oder er saß verträumt am Ufer und ließ flache Steinchen über die Wellen hüpfen. Vor T'sais hatte er sie gewarnt, und T'sain hatte versprochen, vorsichtig zu sein.
Aber eines Tages, als Turjan Vorbereitungen für ihre Rückkehr traf, spazierte sie weiter als sonst durch die blühenden Wiesen und achtete nur auf die Lichtstrahlen, die in ständigem Farbenwechsel über das Land huschten, auf die hohen majestätischen Bäume und die Blumenpracht zu ihren Füßen. Sie bestaunte die Welt, wie nur ein Neuerschaffener dazu fähig ist. Über mehrere niedrige Hügel wanderte sie und durch einen dunklen Wald, wo sie einen kühlen Bach entdeckte. Sie stillte dort ihren Durst, ehe sie weiter am Ufer entlang dahinwandelte und schließlich zu einem Häuschen kam.
Da die Tür offenstand, schaute T'sain hinein, um zu sehen, wer wohl hier leben mochte. Aber das Haus war leer und enthielt nur eine saubere Lagerstatt aus Gras, einen Tisch, auf dem ein Korb mit Nüssen stand, und ein Regal mit ein paar Schüsseln, Teller und Becher aus Holz und Zinn.
T'sain drehte sich um mit der Absicht, sich wieder auf den Weg zu machen, als sie das beängstigende Klappern von Hufen hörte, die ihr wie das Unheil selbst entgegenkamen. Ein Rappe hielt, sich aufbäumend, vor ihr an. T'sain drückte sich angstvoll an die Hauswand, denn nur allzugut erinnerte sie sich der Warnungen Turjans. T'sais war bereits abgesprungen und kam mit erhobenem Degen auf sie zu. Als sie zum Hieb ausholte, trafen sich ihre Augen, und T'sais schien vor Staunen zu erstarren.
Es war ein aufregender Anblick, diese bezaubernd schönen Zwillinge, die beide weiße Pluderhosen trugen, die gleichen leidenschaftlichen Augen, dasselbe zerzauste Haar und die gleiche vollendete Figur mit derselben hellen Haut hatten, nur daß das Gesicht der einen Schwester vor Haß auf alles in diesem Universum verzerrt war, während das der anderen große Begeisterungsfähigkeit und Lebensfreude verriet.
T'sais fand ihre Stimme wieder.
»Wie ist dies möglich, Hexe? Du bist mein Ebenbild und doch nicht ich. Oder verschleiert der Wahnsinn mir endlich gnädig den Blick?«
T'sain schüttelte den Kopf. »Ich bin T'sain, deine Zwillingsschwester, o T'sais. Deshalb muß ich dich lieben, und du mußt mich lieben.«
»Lieben? Ich liebe nichts. Ich werde dich töten, und die Welt wird um eine Abscheulichkeit ärmer sein.« Wieder hob sie den Degen.
»Nein!« rief T'sain flehend. »Weshalb willst du mir Leid zufügen? Ich habe dir nichts getan!«
»Dein Verbrechen ist es, zu leben. Und du beleidigst mich, indem du mir meine eigene abstoßend häßliche Gestalt vor Augen führst.«
T'sain lachte. »Abstoßend häßlich? Nein, ich bin schön, sagt Turjan. Deshalb bist auch du es.«
T'sais war kalt und unbewegt wie Marmor.
»Du verhöhnst mich.«
»Gewiß nicht. Du bist wirklich bezaubernd schön.«
T'sais senkte den Degen und stützte die Spitze auf den Boden. Ihr Gesicht entspannte sich nachdenklich.
»Schönheit? Was ist Schönheit? Ist es möglich, daß ich blind bin? Daß ein Teufel meinen Blick trübt? Verrate mir, wie sieht man die Schönheit?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte T'sain. »Mir scheint es sehr einfach. Ist nicht das Farbenspiel des Himmels von einmaliger Schönheit?«
T'sais blickte erstaunt hoch. »Diese grellen Strahlen? Sie scheinen mir grimmig und unerfreulich, auf jeden Fall aber unerträglich.«
»Sieh doch, wie wundervoll die Blumen sind, wie zart und bezaubernd.«
»Sie sind Parasiten und stinken erbärmlich.«
T'sain war ein wenig verwirrt. »Ich weiß nicht, wie ich dir die Schönheit erklären kann. Du scheinst an nichts Freude und Gefallen zu finden. Gibt es nichts, das dir Zufriedenheit beschert?«
»Nur das Töten und Vernichten. Also muß das schön sein.«
T'sain runzelte die Stirn. »Ich halte diese Einstellung für schrecklich.«
»Wirklich?«
»Allerdings.«
T'sais überlegte. »Wie kann ich jetzt noch wissen, was ich tun soll? Ich war so überzeugt, daß
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