Die sterblich Verliebten
»und deshalb hörst du zu, damit du es endgültig glaubst, dir endgültig bestätigst. Du hast es dir unentwegt vor- und nacherzählt, jeden Tag, jede Nacht in den letzten zwei Wochen. Du hast begriffen, dass mir mein Verlangen über alle Rücksichten, alle Hemmungen, alle Skrupel geht. Über jede Loyalität, stell dir vor. Für mich war seit langem klar, dass ich mit Luisa verbringen möchte, was mir noch zu leben bleibt. Dass man nur einmal lebt, jetzt nämlich, und nicht aufs Glück vertrauen darf, nicht darauf, dass sich etwas von allein ergibt und wie von Zauberhand Hindernisse und Widerstände verschwinden. Man muss selbst die Ärmel hochkrempeln. Die Welt ist voller Nichtstuer und Pessimisten, die nichts zustande bringen, weil sie sich um nichts bemühen, und dann beklagen sie sich, fühlen sich frustriert und nähren ihren Groll auf die Umstände: So sind die meisten Menschen, idiotische Faulpelze, schon von vornherein bezwungen durch ihren Stand im Leben, durch sich selbst. Ich bin all die Jahre Junggeselle geblieben; ja, ich vertrieb mir die Zeit mit sehr dankbaren Intermezzi, immer in Erwartung. Zuerst in Erwartung, dass jemand auftauchte, der diese Schwäche in mir hervorrief und für den ich sie empfand. Dann … Nur auf diese Weise verstehe ich den Ausdruck, den alle Welt so ungeniert benutzt, der jedoch kaum so einfach sein kann, denn nicht viele Sprachen kennen ihn, außer der unseren bloß das Italienische, soweit ich weiß, natürlich beherrsche ich nur wenige … Vielleicht das Deutsche, ich weiß es wirklich nicht: die Verliebtheit. Das Substantiv, den Begriff; das Adjektiv, den Zustand, das kennt man sehr wohl, zumindest im Französischen, und das Englische bemüht sich, nähert sich wenigstens an … Viele Menschen bereiten uns viel Freude, amüsieren, bezaubern uns, erwecken in uns Zuneigung, ja Zärtlichkeit, oder sie gefallen, begeistern uns, machen uns sogar vorübergehend ganz verrückt, wir genießen ihren Körper oder ihre Gesellschaft oder beides, wie es mir bei dir geht und schon ein paarmal gegangen ist, nicht oft. Bis manche uns unentbehrlich werden, die Macht der Gewohnheit ist gewaltig und besetzt, ja ersetzt fast alles. Sie kann zum Beispiel die Liebe ersetzen; aber nicht die Verliebtheit, man sollte zwischen beiden trennen, sosehr man sie verwechselt, sie sind nicht das Gleiche … Es kommt sehr selten vor, dass man Schwäche für jemanden empfindet, echte Schwäche, dass sie jemand in uns auslöst, uns schwach macht. Das Entscheidende ist, dass sie uns jede Objektivität nimmt, uns auf ewig entwaffnet, bei allen Streitigkeiten kapitulieren lässt, wie am Ende auch Oberst Chabert vor seiner Frau kapitulierte, als er sie unter vier Augen wiedersah, ich habe dir von der Geschichte erzählt, du hast sie gelesen. Die eigenen Kinder, heißt es, erwecken sie, und das will ich gern glauben, doch geschieht das bei ihnen bestimmt auf andere Art, es sind schutzlose Wesen von Anfang an, seit sie auf der Welt sind, die Schwäche, die sie in uns auslösen, erklärt sich wohl durch ihre absolute Wehrlosigkeit, und offensichtlich bleibt sie uns … Generell empfinden die Menschen derlei bei einem Erwachsenen nicht und wollen es auch gar nicht. Sie warten nicht darauf, sind ungeduldig, nüchtern, wünschen es sich womöglich nicht einmal, weil sie keinen Begriff davon haben, also tun sie sich mit dem Erstbesten zusammen oder heiraten, das ist nichts Seltenes, sondern die Regel, immer schon, manche denken sogar, die Verliebtheit sei eine moderne Erfindung der Romane. Wie dem auch sei, wir haben sie nun mal, die Erfindung, das Wort, die Fähigkeit zu dem Gefühl.« Díaz-Varela hatte hin und wieder einen Satz unvollendet oder in der Schwebe gelassen, hatte geschwankt, wäre am liebsten unablässig zu etwas anderem abgeschweift, hatte sich gezügelt; er wollte keine großen Reden schwingen, sosehr er dazu neigte, sondern mir etwas erzählen. Er war nach vorn gerutscht, saß jetzt auf der Sesselkante, die Ellbogen auf den Knien, die Hände gefaltet; sein Ton war leidenschaftlich geworden inmitten der unpersönlichen, fast didaktischen Gliederung, die er seinen Reden meist gab. Und wie immer, wenn er länger am Stück sprach, konnte ich nicht die Augen von seinem Gesicht, seinen Lippen wenden, die sich beim Hinausbefördern der Wörter flink bewegten. Ich war nicht etwa uninteressiert an dem, was er sagte, immer hatte es mich interessiert, erst recht jetzt, da er mir beichtete, was er getan
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