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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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unweigerlich verinnerlicht, in mich aufgesogen hatte, sie blieb in meinem Gehirn gespeichert, solange es kein Dementi gab, das ich nicht einfordern konnte, ohne mich in Gefahr zu begeben. Ich musste so tun, als wüsste ich nichts, weil ich in seinen Augen nicht als indiskrete Spionin dastehen wollte – je nachdem, welche Rolle es für mich noch spielte, wie sie mich sahen, und damals spielte es noch eine Rolle, denn kein Wechsel vollzieht sich schlagartig und sofort, selbst wenn der Anlass eine entsetzliche Entdeckung ist –, und weil es außerdem zu meinem Besten war, regelrecht lebenswichtig. Angst um mich spürte ich auch, ein klein wenig, mehr konnte ich einfach nicht empfinden, konnte die Bedeutung des Geschehenen und was es mit sich brachte nicht ermessen, es war nicht einfach, von der Ruhe und Schläfrigkeit
post coitum
zur Furcht vor dem Menschen überzugehen, mit dem man beides erlangt hatte. All das hatte etwas Unwahrscheinliches, Unwirkliches, etwas von einem lästerlichen, unheilvollen Traum, der uns auf der Seele liegt und den wir nicht ertragen, ich konnte Díaz-Varela nicht so plötzlich als Mörder sehen, der erneut zuschlagen würde, nachdem er es einmal ausprobiert, einmal die Grenze überschritten hatte. Und so einer war er ja auch nicht, wie ich mir später einredete: Er hatte nicht zum Messer gegriffen, auf niemanden eingestochen, hatte nicht einmal mit diesem Vázquez Canella gesprochen, dem Schirmmützler, dem Mörder, hatte ihm keinerlei Auftrag gegeben, keinerlei Kontakt zu ihm gehabt, nie ein Wort mit ihm gewechselt, wie ich mir ableitete. Mag sein, er hatte sich den Anschlag gar nicht ausgedacht, hatte womöglich Ruibérriz von seinem Kummer erzählt, und der hatte alles auf eigene Faust geplant – um sich lieb Kind zu machen, ein Hohlkopf, ein Wirrkopf –, ja hatte ihn vielleicht sogar vor vollendete Tatsachen gestellt, wie jemand, der sich mit einem unverhofften Geschenk einstellt: ›Schau, wie ich dir die Bahn geebnet, schau, wie ich dir den Weg frei gemacht habe, jetzt liegt alles bei dir.‹ Nicht einmal dieser Ruibérriz war der Vollstrecker gewesen, auch er hatte nicht zur Waffe gegriffen, hatte niemandem konkrete Anweisungen gegeben: Zunächst hatte das ein Dritter übernommen, soweit ich verstanden hatte, ein bloßer Bote, und sie hatten nichts weiter getan, als die wirre Phantasie des Penners zu vergiften und auf eine künftige Reaktion, eine gewalttätige Anwandlung seinerseits zu vertrauen, zu der es kommen konnte oder nicht, und wenn das ein vorsätzlich geplantes Verbrechen war, hatte man dem Zufall dabei eine sonderbar große Rolle überlassen. Inwieweit hatten sie schon Gewissheit gehabt, inwieweit waren sie schon verantwortlich. Es sei denn, sie hätten ihm direkt Anweisungen oder Befehle gegeben, hätten ihn dazu genötigt, hätten ihm das Butterflymesser mit seinen sieben Zentimetern Klinge besorgt, die gänzlich ins Fleisch eindringen, so einfach wird das nicht zu beschaffen sein, theoretisch sind sie verboten und wären auch kaum erschwinglich für jemanden, der gerade mal ein bisschen Trinkgeld verdient und in einem Autowrack schläft. Sie hatten ihm das Handy bestimmt gegeben, damit sie ihn anrufen konnten, nicht, damit er anrief – vielleicht hatte er nicht einmal gewusst, wen, seine Töchter waren verschollen oder hatten sich freiwillig von ihm entfernt, mieden einen so cholerischen, puritanischen, geistesgestörten Vater wie die Pest –, damit sie es ihm direkt ins Ohr einflüstern konnten, niemand macht sich klar, dass uns das, was man durchs Telefon hört, nicht aus weiter Ferne erreicht, sondern aus nächster Nähe, und deshalb überzeugt es uns viel mehr als das, was uns ein Gesprächspartner vis-à-vis sagt, denn der streift nicht unser Ohr oder nur in seltenen Fällen. Ein Gedanke, der eigentlich nicht weiterhilft, im Gegenteil, alles erschwert, doch mir half er vorübergehend dabei, mich etwas zu beruhigen und nicht bedroht zu fühlen, nicht prinzipiell, nicht damals, nicht in Díaz-Varelas Wohnung, nicht in seinem Schlafzimmer, in seinem Bett: Er hatte sich mit Sicherheit die Hände nicht mit Blut befleckt, mit dem seines besten Freundes, des Mannes, der mir so sympathisch gewesen war von weitem, beim Frühstücken all die Jahre.
    Dann war da noch der andere, dessen Gesicht ich sehen wollte, um dessentwillen ich bereit war, halbnackt herauszukommen, bevor er aufbrach und mir sein Anblick für immer entging. Vielleicht war er gefährlicher und

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