Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Wildnis. Mary betrachtete die Wiesen ringsum; schon jetzt sah sie vor sich, wie das Gras die Trümmer überwuchern, wie sich Disteln und Brennesseln zwischen die Steine setzen und ein undurchdringliches Gestrüpp den Platz unter sich vergraben würde. Sie hob die Augen, ungläubig und benommen und sah den Weidenbaum, das einzige, was von allem stehengeblieben war. Er wirkte unverändert, aber seltsam sinnlos, wie er hier seine Äste über den Trümmern wehen ließ – Mary fiel eine zerfetzte Fahne über einem gekaperten und bereits halb versenkten Schiff ein. Dieser Anblick war schlimmer als Schutt und Asche. Verzweifelt sagte sie sich: Ich darf nicht weinen. Wenn ich jetzt weine, höre ich nie wieder auf. Später ist immer noch Zeit genug.
Sie wandte sich um, hielt sorgsam ihre schmutzigen Röcke gerafft und kletterte den Hügel wieder hinab. Die Sonne schien ihr warm ins Gesicht, während sie voranlief, ohne sich noch einmal umzusehen und ohne eine einzige Träne, aber so schnell sie auch ging, sie konnte ihren Gedanken nicht entkommen, die sie unbarmherzig verfolgten. Frederic war tot, und mit Marmalon war ihre ganze Zukunft
niedergebrannt und sah ihr ebenso zertrümmert, rauchend und trostlos entgegen wie es gerade eben die Ruinen dort im Tal getan hatten. Und während sie die schlammigen Wege entlangstolperte, konnte sie fühlen, wie der Schmerz sie beinahe erstickte, wie sie ihn in sich hineinfraß und wie er sich in ihrem Inneren in einen harten, schweren Klumpen verwandelte, der ihr die Tränen und jeden Schrei abdrückte. Vielleicht macht mich jetzt nie wieder etwas traurig, dachte sie gleichmütig, denn ich sterbe ja gerade.
Außer Atem langte sie am Pfarrhaus an, ohne anzuklopfen trat sie ein und ging in das Zimmer des Priesters. Er stand am Regal und blätterte in einem Buch, das er beiseite legte, als er Mary sah. Über sein Gesicht glitt ein Ausdruck der Erleichterung, denn er hatte gewußt, daß sie nach Marmalon wollte und hatte sich ängstlich gefragt, wie sie wohl zurückkehren würde.
»Du bist gerade recht zum Essen da«, sagte er freundlich, »ich glaube, Jean hat etwas besonders Gutes gekocht.«
»Danke, ich möchte jetzt nichts essen. Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden.«
»Du willst Shadow’s Eyes verlassen?«
»Ja. Sobald wie möglich.«
Der Priester nickte langsam. Er hatte das erwartet, aber dennoch betrachtete er Mary sorgenvoll. Ihr Gesicht war so blaß und starr. Als sie ihren Blick hob, entdeckte er in ihren Augen die Veränderung, die in den letzten Wochen mit ihr vorgegangen war. So angstvoll und gehetzt sie auch gewesen sein mochte, als Kind wie als junges Mädchen, in ihren Augen hatten immer Weichheit, Unschuld und eine seltsame, ihn schon von ihren ersten Lebensjahren an rührende Zärtlichkeit gelegen, die Verheißung einer Bereitschaft zur vollkommenen Hingabe an einen Menschen und an eine Liebe. Weder Ambrose noch Lettice, weder die fäulniserfüllten Gassen von Shadow’s Eyes noch die lasterhafte Luft Londons hatten ihr das zu nehmen vermocht. Heute aber war jede Weichheit aus ihren Zügen verschwunden. Eine junge Frau stand vor ihm mit einem schmalen, harten Gesicht und kühlen, wachen Augen, in denen unbeugsame Willenskraft und eine Tapferkeit standen, die ihn wortlos machten.
Als Mary das Pfarrhaus verließ, hielt sie den Kopf hoch und der
Frühlingswind zerzauste ihre Haare. In ihren Ohren klang Lettices Stimme, zynisch und rauh, wie sie einst vor vielen Jahren zu ihr gesagt hatte: »Du hast es früh begriffen, daß es einen verdammten Dreck nützt, sich einem Kerl an den Hals zu werfen und von ihm was zu erhoffen...«
Sie hatte jetzt begriffen, daß sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen mußte. Von allen Lehren Lettices war dies die wahrste. Sie hatte auf einen Mann gebaut, der anderes im Kopf gehabt hatte als sie, und nun war er tot, und sie stand mit nichts in den Händen da und fühlte sich, als rinne ihr das pure Leben aus dem Körper. Von nun an übernahm sie allein die Verantwortung für sich, und zum Teufel mit jedem, der sich ihr in den Weg stellen würde. Es konnte noch eine Zeit dauern, bis sich ihr rasender Schmerz verlor, aber es mußte vorbeigehen, es ging immer vorbei.
Sie lief die Straße entlang, vorüber am Friedhof, und sie warf keinen Blick mehr auf das frischgeschaufelte Grab, auf dessen Stein der Name von Frederic Belville stand.
IV
Mary stand in der Küche des Armenhauses von Shadow’s Eyes und rührte in einem
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