Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Ziegeln gedeckt. Mary hatte nie ein schöneres und gepflegteres Anwesen gesehen. Vor Bewunderung und Kummer kamen ihr die Tränen. Sie stand dort mit nackten Füßen im Gras, von einem plötzlichen Hustenanfall geschüttelt, und spürte einen so übermächtigen Wunsch,
hier zu leben und niemals zurück zu müssen, daß sie sich am liebsten im Dickicht verkrochen hätte. Statt dessen wischte sie sich die Tränen fort, damit Bess nichts merkte, und hustete.
»Was hast du denn schon wieder?« fragte Bess. »Hör auf zu husten, sonst denken die gleich, du hättest die Schwindsucht!«
Mary bemühte sich, die Schmerzen in ihrer Brust zu ignorieren, rang nach Atem, konnte den Reiz aber schließlich beherrschen. Auf einem Pfad, der zwischen Bäumen hindurchführte, näherten sie und Bess sich dem Schloß, liefen dort ein paar ausgetretene Treppenstufen hinunter und betraten es durch den Keller.
Hier erinnerte es Mary wieder eher an zu Hause, wenn auch der Raum, in dem sie nun stand, größer war als drei Zimmer im Armenhaus zusammen. Es gab keine Fenster, so daß alles Licht von Kerzen und Öllampen kam, die eine stickige Luft verbreiteten. Wände und Fußboden bestanden aus schwarzen Steinen, die ungefügig ineinander gesetzt waren. Es gab mehrere Feuerstellen im Raum, große, steinerne Öfen, über denen schimmernde Kupferkessel hingen, wuchtige Holztische mit Bergen von Geschirr und Lebensmitteln darauf, Holzkübel bis zum Rand mit stinkenden Abfällen gefüllt. In einer Ecke kniete ein junges Mädchen und schrubbte den Fußboden, an einem der Öfen stand eine alte, dicke Frau und rührte eifrig in einem Kessel. Sie unterbrach ihre Tätigkeit, als sie Bess und Mary erblickte, und eilte auf die beiden zu.
»Du bist Mary Askew!« rief sie und umfaßte Mary mit beiden Händen. »Jesus, wie klein und dünn du bist! Hast du jemals etwas Anständiges gegessen?«
Mary wußte darauf nichts zu erwidern und schwieg. Die Frau sah sie aus freundlichen blauen Augen an. Sie wirkte gesund und sauber, ganz anders als die alten Frauen im Armenhaus, die verwirrt redeten und ihr jeweiliges Gegenüber bei jedem Wort zwischen ihren schwarzen löchrigen Zähnen hindurch anspuckten.
»Das ist Gladys, die Köchin«, stellte Bess vor, »und das dort hinten ist Lil, Küchenmädchen wie du. Du wirst schon noch alle Dienstboten kennenlernen, Mary!« Sie wandte sich an Gladys. »Verwöhn sie nicht«, warnte sie, »die Kleine muß zäh werden, sonst schafft sie es bei uns daheim nicht. Sie ist ohnehin zu weich.«
»Sei mir nicht böse, Bess«, erwiderte Gladys, »aber deine Familie ist wohl das lumpigste Pack, das wir je in Shadow’s Eyes hatten!«
Bess zuckte mit den Schultern. »Meine Mutter hat wenigstens Verstand«, sagte sie, »aber mein Vater ist ein verkommener Dummkopf und mein Bruder ein ekelerregendes Unkraut. Nicht mehr lange, und ich verschwinde von dort!«
»Du landest genau wieder da, wo du herkommst, Bess Askew«, prophezeihte Gladys, »du bist nicht besser als deine Mutter. Ah, ich erinnere mich an Lettice, als sie in deinem Alter war, so hübsch war sie, so gescheit, so frech und ehrgeizig! Solche Reden wie du hat sie geschwungen, aber dann mußte nur ein Kerl wie Ambrose Askew daherkommen, sich mit ihr ins Heu legen, ihr ein Kind machen, und schon war der Traum aus, ehe er begonnen hatte. Und mit dir kommt es genauso!«
»Ach, rede nicht so viel. Tu deine Arbeit wie wir alle!«
Mary war erschrocken, Gladys so reden zu hören, denn sie hatte Bess immer sehr bewundert und gedacht, alle Leute müßten das tun. Etwas verloren stand sie in der großen Küche herum, bis Gladys sie plötzlich hochhob und auf eine Bank setzte.
»So ein zartes Gesichtchen«, sagte sie, »daß Lettice so eine Tochter haben kann! Du wirst jetzt erst einmal etwas essen.«
Geschäftig schleppte sie Milch, Brot und Butter heran und baute alles vor Mary auf.
»Nun iß bloß! Sonst habe ich ja Angst, daß du umfällst!«
Mary hatte zwar keinen Hunger, aber sie mochte die freundliche Gladys nicht enttäuschen. Sie aß langsam und beobachtete dabei Bess und Lil, die eifrig tratschten. Lil schien interessante Neuigkeiten zu haben. »Ich habe vorhin mit Liza gesprochen«, erzählte sie. Liza war, wie Mary später erfuhr, die Kammerzofe von Lady Fairchild. »Und Liza hatte vorher eine Unterhaltung zwischen Mylady und Miss Cathleen angehört. Sie erzählen, daß in London ein öffentlicher Prozeß begonnen hat, wegen der Scheidung Seiner Majestät von der
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