Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Titel: Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
sie wurde, um so mehr kamen ihr die Würdelosigkeit und die Unterwürfigkeit ihrer Mitbewohner zu Bewußtsein und ärgerten sie. Sie verstand nicht, warum sie sich nicht wehrten, da sie doch gemeinsam viel stärker als Ambrose und Lettice und der Rest der Familie waren. Sie verstand erst viel später, daß Menschen, die hierherkamen, sich nicht mehr wehren konnten, sich gegen nichts und niemanden auf der Welt mehr auflehnen wollten. Hätten sie noch einen Funken Kraft in sich gespürt, sie hätten einen weiten Bogen um Shadow’s Eyes gemacht, und einen noch viel weiteren um Ambrose Askew.
    Es gab eine einzige Frau im Armenhaus, an die sich Mary ein wenig anschloß, obwohl sie die Alte insgeheim ein bißchen unheimlich fand. Nan Mortimer war schon siebzig Jahre alt, womit sie eine vollkommene Ausnahme unter den Menschen ihrer Zeit und ihrer Herkunft bildete. Klein, grauhaarig und völlig zahnlos saß sie von morgens bis abends in derselben Ecke in demselben Zimmer, murmelte unverständliche Laute vor sich hin, reckte hin und wieder ihre spitze Nase in die Luft, als wolle sie erschnuppern, was ihre trüben Augen nicht zu sehen vermochten. Sie war in Shadow’s Eyes aufgetaucht, als Mary fünf war, und seither zu einer der wenigen Institutionen geworden, die es hier gab. Sie war sehr einsam, was ihr nichts auszumachen schien, aber es freute sie auch, wenn jemand ihr zuhörte, und Mary, ebenfalls einsam und sich selbst überlassen, hörte ihr gern zu. Nan Mortimer konnte in die Zukunft blicken und mit den Seelen der Toten sprechen, sie leugnete hartnäckig und unerschrocken die Existenz eines Gottes und ließ statt dessen Geister ihrer Phantasie entspringen, die die Geschicke der Welt sowie der Menschheit lenkten. Wenn Mary Lettice davon erzählte, lachte die und fand nichts Schlimmes dabei, wohingegen sie rasend vor Wut wurde, wenn Mary die Worte Pater Joshuas wiederholte, der immer von Gottes Lohn für alle Mühsal des Daseins sprach und von dem daher lohnenden Erdulden aller Qual. Es konnte dann geschehen,
daß Lettice ihre Schuhe oder sogar einen ganzen Stuhl gegen die Wand warf vor Zorn, und, gottlos, temperamentvoll und gescheit wie sie war, die Worte des Paters in der Luft zerfetzte.
    »Einen Tag«, schrie sie, »nur einen einzigen Tag soll der verfluchte Narr an meiner Stelle verbringen, und dann will ich sehen, wie ihm das einfältige Lächeln auf dem Gesicht gefriert und ihm seine schönen Worte eines nach dem anderen im Hals steckenbleiben und wie er aufhört, von Gefügigkeit zu reden, weil die nämlich nicht mehr so viel Spaß macht, wenn man selber drankommt!«
    »Was du viel redest«, brummte Ambrose, der schon immer Schwierigkeiten gehabt hatte, den Worten seiner Frau zu folgen, und Lettice bekam einen zweiten Anfall und schrie, sie habe ihr ganzes Leben ruiniert, weil sie den dümmsten Mann der Welt geheiratet habe.
    Manchmal kramte Nan irgendwo zwischen den Falten ihres Kleides und zog eine goldfarbene Kugel hervor, die an einer feingliederigen Kette schwang.
    »Darin«, murmelte sie, »liegen die Geschicke der Menschheit verborgen. Auch deines, Mary. Ich könnte es in der Kugel lesen!«
    Mary zitterte vor Aufregung. »O bitte, Nan, tu es!« bat sie.
    Aber Nan ließ die Kugel ebenso schnell verschwinden, wie sie sie hervorgeholt hatte. »Nein, Herzchen. Noch nicht. Versuch erst einmal, es allein herauszufinden.« Dann kicherte sie, und ihre schweren Lider schlossen sich halb über die Augen.
    »Eines kann ich dir verraten«, murmelte sie, »paß auf mit den Männern! Sie sind der wunde Punkt in deinem Leben.«
    »Das kann nicht sein«, sagte Mary aus tiefster Überzeugung, aber Nan ließ sich davon nicht beeindrucken.
    »Die Geister lügen nicht. Der Mann, der dich liebt, wird lange leiden. Du glaubst es jetzt nicht, aber der Tag wird kommen, an dem du an meine Worte denkst!«
    Was die Geister betraf, gelangte Mary schon bald nachdem sie angefangen hatte, im Herrenhaus zu arbeiten, zu der Erkenntnis, daß sich ihr ein äußerst wohlgesinnter Geist in der Gestalt der Lady Cathleen näherte. Drei Wochen nach der ersten Begegnung traf sie sie eines Morgens erneut im Park, knickste erschrocken und wollte
eilig fortlaufen, aber Cathleen hielt sie fest und drehte sie zu sich um.
    »Lauf doch nicht gleich fort, Mary«, sagte sie freundlich, »oder ist dir heute schon wieder schlecht?«
    Mary schüttelte den Kopf, wohl wissend, daß das unhöflich war, doch völlig unfähig, einen Laut

Weitere Kostenlose Bücher