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Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Titel: Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Mylady, heißt das!« zischte sie.
    »Ja, Mylady«, wiederholte Mary folgsam.
    »Und wie alt bist du?«
    Mary vergaß, daß sie auf diese Frage hin hätte schwindeln müssen. »Zwölf, Mylady.«
    Die Frau nickte langsam. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, aber offenbar hatte sie auf einmal das Gefühl, sich schon etwas zu lange mit ihren Dienstboten abgegeben zu haben, denn ihr Gesicht nahm einen distanzierten Ausdruck an. Sie nickte Gladys noch einmal zu, dann setzte sie ihren Weg fort. Der Saum ihres Kleides, der mit kleinen goldenen Perlen verziert war, schleifte hinter ihr her. Mary starrte ihr nach. Sie zuckte zusammen, als Gladys nach ihrer Hand griff.
    »Das war Lady Cathleen Fairchild«, sagte sie, »die Tochter von Lord und Lady Fairchild. Deine Schwester möchte unbedingt ihre Zofe werden, um nicht länger in der Küche arbeiten zu müssen, aber das gelingt ihr nie im Leben. Lady Cathleen mag keine vulgären Menschen!«
    Aber mich hat sie angelächelt, dachte Mary, und ehe ihre Schüchternheit sie wieder überwältigen konnte, ehe sie überhaupt richtig nachdachte, sagte sie triumphierend: »O ich weiß, ich werde ihre Zofe! Nicht Bess, sondern ich!« Und das Glücksgefühl über diesen Einfall blieb ihr den ganzen Tag, auch noch, als ihr nach dem Mittagessen ein zweites Mal schlecht wurde, und am Abend, als sie den blühenden Park unter blaßblauem Abendhimmel verließen und über das holprige Kopfsteinpflaster der Straßen von Shadow’s Eyes zu ihrem Haus zurückliefen.
     
    Solange Mary denken konnte, hatte im Armenhaus von Shadow’s Eyes ein reges Kommen und Gehen geherrscht, wobei Gehen meist Sterben bedeutete, denn selten sah jemand in diesem Quartier etwas anderes als die letzte Station seines Lebens und raffte sich dazu auf, seine Sachen zu packen und dieser fortwährenden Hölle aus Hunger, Kälte und unerträglich engem Zusammenleben den Rücken zu
kehren. Es gab ja auch keinen Ort, an den man hätte gehen können. Wer sich Ambrose Askew anvertraute, hatte keinen Besitz und keinen Menschen auf der Welt, und nicht die allergeringste Hoffnung, jemals eine Zufluchtstätte zu finden. Es handelte sich entweder um Bauern, denen vom Grundherrn das entlehnte Land fortgenommen worden war, weil sie Steuern oder Abgaben nicht hatten zahlen können, oder um Knechte und Mägde ohne feste Arbeit, wie es sie zu Hunderten im Land gab. Sie zogen von einem Hof zum nächsten, bettelten um irgendeine Beschäftigung, um einen Hungerlohn oder nur ein Stück Brot, aber entweder fanden sie niemanden, der sie aufnehmen wollte, oder sie waren zu krank und zu schwach, um noch harte Feld- und Stallarbeit leisten zu können. Wenn sie richtig krank waren, ließ auch Ambrose sie nicht ein, denn dazu war er nicht verpflichtet, aber manchmal erkannte er zu spät, daß der Mann oder die Frau vor ihm am Typhus litt oder am gelben Fieber, und im Nu hatte sich das halbe Haus angesteckt. Lettice bekam dann jedesmal ihre berüchtigten Wutanfälle.
    »Wir krepieren alle eines Tages!« schrie sie. »Wirf die Kranken hinaus, Ambrose, oder du siehst mich hier nie wieder!«
    Aber Ambrose durfte Leute, die im Haus krank geworden waren, nicht hinausweisen, und da er wußte, daß sie sofort zu Pater Joshua laufen und sich beschweren würden, wagte er es auch nicht. Er schleifte sie in den eiskalten, feuchten Keller, stellte ihnen Wasser und Brot hin, verriegelte die Tür und teilte ihnen mit, sie dürften erst wieder nach oben kommen, wenn sie gesund seien. Lettice ließ von Bess und Mary Berge von Wacholderzweigen im Wald sammeln, die sie verbrannte, um alle Zimmer auszuräuchern, sie verteilte überall Rautenbüschel, deren Geruch die Ratten, die gefürchtetsten Krankheitsüberträger, vertrieb, und sie führte solch gottlose Reden, daß ihre Bitten wohl irgendwo erhört wurden. Tatsächlich steckte sich niemand aus der Familie jemals an, jedenfalls nicht an den furchtbaren, tödlichen Krankheiten. Natürlich kam auch aus dem Keller kaum je wieder einer herauf. Manchmal ertönten die unheimlichen, dumpfen Schreie eines delirierenden Kranken, der seinen Kopf gegen die Wände schlug oder die heilige Maria um Hilfe anflehte, aber irgendwann verstummte jeder Laut, die Eingesperrten
starben, faulten dahin, verwesten und wurden von Ambrose draußen in den Feldern vergraben.
    Mit zunehmendem Alter wurde Mary von einer steigenden Abneigung gegenüber diesen Menschen ergriffen. Früher hatten sie einfach zu ihrem Leben gehört, doch je älter

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