Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Myrrhinia über all das zu reden. Sie war eine energische, zuverlässige Frau, aber Mary bezweifelte, daß sie die abgrundtiefe Traurigkeit, die Auflehnung, die Unbegreiflichkeit nachempfinden konnte, durch die sie selbst ging. Sie bohrte den Kopf in die Kissen. Wieviel Zeit war vergangen, seitdem sie im Tower gewesen war, drei Tage, vier, eine Woche? Sie wußte es nicht und wollte es nicht wissen.
»Ich kann es nicht ertragen«, stöhnte sie, »lieber Gott, hilf mir, ich ertrage es nicht!«
Was tat Nicolas jetzt? Kauerte er im Verlies, lief er unruhig an den Wänden entlang? Betete er, fluchte er, weinte, zitterte, schrie
er? Oder stand er schon vor dem Priester, führten sie ihn bereits aufs Schafott? Dachte er an sie?
Gott, gib, daß er an mich denkt, betete sie, laß ihn keine Angst haben. Gib ihm die Kraft, es auszuhalten. Und gib mir Kraft, ich sterbe sonst!
Sie fühlte, sie würde wahnsinnig werden. Es gab keinen Trost mehr. Es war Tag, grausam heller Tag, sie hörte Schritte auf der Treppe, Keuchen und Rufen, und wollte schreien:
»Laßt mich in Ruhe! Verschwindet! Wagt es nicht, mich zu stören !«
Aber ihre Stimme gehorchte ihr nicht mehr. Sie brachte keinen Ton heraus. Es fühlte sich an, als habe sie einen Ballen trockenes Moos im Mund, das ihre Worte aufsaugte. Von weither sagte Myrrhinia:
»Mr. Bloom! Oh, Mr. Shannon! Ich glaube, es ist nicht gut, jetzt zu ihr zu gehen. Es geht ihr sehr schlecht. Mr. de Maurois wird...«
»Aber deshalb kommen wir ja«, unterbrach Bartholomew. Er trat an Marys Bett und drehte sie sacht zu sich herum. Sie schloß die Augen vor der Helligkeit, aber Bartholomew schüttelte sie.
»Wachen Sie auf, Mary, sehen Sie mich an!«
Aufgeschreckt von seiner aufgeregten Stimme schlug Mary die Augen auf. Das Gesicht des alten Mannes war so erregt, wie sie es nie erblickt hatte.
»Mary, die Hochzeit! Die Hochzeit des Königs! Gottverdammte Narren, die wir sind, wir hätten damit rechnen müssen...«
»Was?«
»Amnestie, Mary! Schon vor einer Woche hat der König in aller Heimlichkeit Jane Seymour geheiratet, heute wurde es offiziell verkündet! Und es hat eine Amnestie gegeben für alle zum Tode Verurteilten in der Stadt!«
Die Glocken Londons läuteten. Schwer und klar, dann schneller, jubelnd, freudig klangen sie durch den Morgen. Scharen von weißen Tauben flogen in die Luft, Hochrufe ertönten. Das königliche Paar zog durch die Straßen, Fahnen wehten und goldener Wein floß in Strömen. Wer dachte noch an die tote Königin, wer dachte noch an irgendeinen Toten?
Mary richtete sich auf. Ihre Stirn brannte. Bartholomew hielt ihre Hände.
»Die Todesurteile sind aufgehoben, verwandelt in zehn Jahre Haft! Er wird leben, Mary, Nicolas wird leben! Zehn Jahre sind eine verflucht lange Zeit, aber ihr seid jung, und du bekommst ihn wieder! Er kehrt zurück!«
Noch immer konnte sie nichts sagen. Myrrhinia stemmte die Arme in die Seiten.
»Hab’ ich es nicht gesagt? Als ob es sich jemals lohnte, sich über etwas aufzuregen! Aber nein, sie liegt hier, weint sich die Augen aus und kümmert sich kein bißchen um das arme kleine Ding!« Sie hob das Baby aus seinem Korb.
»Armes Wurm! Hast du gehört, dein Vater bleibt dir doch nicht erspart! Ich sag’ immer, das schlimmste, was Kinder verkraften müssen, sind ihre Väter. Na, der wird sich wundern in zehn Jahren, wenn dann ein großes, hübsches Mädchen vor ihm steht. Nicht wahr...« Sie unterbrach sich.
»Herrgott, es reicht mir jetzt! Wie soll denn einer mit der Kleinen reden? Immer komme ich ins Stocken, wenn ich sie ansprechen will! Wie, verflixt noch mal, heißt sie denn nun?«
Alle starrten sie überrascht an. An Myrrhinias nie versiegenden praktischen Sinn hatte sich noch keiner gewöhnt. Aber jetzt hatte der alte Will Shannon seine große Stunde. Ehe jemand antworten konnte, breitete sich ein stolzes Lächeln über sein Gesicht.
»Ich weiß, wie sie heißen soll! Es gibt doch nur eine Möglichkeit, nicht? Am Tag, an dem die neue Königin durch die Straßen Londons zieht und nach allem, was geschehen ist. Sie heißt Jane !«
Beifallheischend sah er sich um. Mary war noch immer nicht in der Lage, etwas zu sagen. Aber Myrrhinia nickte.
»So soll es sein. Hör mal, Kind, deine Mutter begreift im Moment gar nichts, deshalb nehmen wir das jetzt in die Hand!«
Sie schaukelte die Kleine sacht hin und her und sagte feierlich:
»Im Namen der Königin – von heute an heißt du Jane. Und Gott segne dich!«
V
Es war ein
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