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Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Titel: Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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verwundert. Wo ist der Nicolas, der im Schatten von Tyburn lachte, als sei das Leben nichts als ein makabres Spiel? Irgendwo in seinen tiefschwarzen Augen mußte noch etwas von früher übrig sein, aber sie fand nichts als Furcht. Sie klammerte sich an ihn, wurde plötzlich überschwemmt von einem Gefühl, von dem sie glaubte, es könnte Liebe sein, und zugleich erfüllt von der furchtbaren Gewißheit, daß er ihr nicht glauben würde.
    »Ich liebe dich«, sagte sie schnell und heftig, die Augen angstvoll aufgerissen, weil sie eine höhnische Antwort erwartete, »o Nicolas, ich liebe dich! Ich habe dich immer geliebt und ich liebe dich jetzt! Bitte, bitte, glaub es mir, ich liebe dich, dich als einzigen Menschen auf der Welt!« Ihre Stimme und ihre Augen bettelten darum, er möge ihr glauben. Nicolas schüttelte schwach den Kopf. Auf einmal zerrte er sie an sich und in seinem Gesicht spiegelten sich alle seine widerstreitenden Gefühle, seine Ironie, seine Verzweiflung, seine Ungläubigkeit, sein Zorn und vor allem eine hilflose Angst.
    »Seit ich dich habe, Mary, will ich nicht mehr sterben«, murmelte er, »aber das habe ich viel zu spät gemerkt. Und ob ich dir glaube
oder nicht, ich kann nicht anders als dich lieben, in alle Ewigkeit!« Seine rauhen, aufgesprungenen Lippen umschlossen ihren Mund. Er küßte sie, wie er sie nie geküßt hatte, besitzergreifend, unbeherrscht und heftig; er tat ihr weh in seiner Rücksichtslosigkeit, und sie genoß es, sie schmeckte süßliches Blut in ihrem Mund und fand es schön. Auf einmal schwanden Mißtrauen und Furcht, mit denen sie zu kämpfen gehabt hatte, seitdem Frederic gestorben war. Sie hatte geglaubt, sie werde niemals wieder fähig sein, sich und ihr Leben mit einem Menschen zu teilen; nun erwachte diese Bereitschaft in ihr, so unvermittelt und heftig, daß sie hätte schreien mögen vor Kummer um die verlorene Zeit.
    Von draußen hörte sie die Schritte des Wärters und das Geräusch des eisernen Riegels, der zurückgeschoben wurde. Die Zeit war um. Sie hielt Nicolas so fest, als könne sie verhindern, daß man sie gewaltsam trennte, und flüsterte:
    »Ich liebe dich. Ich liebe dich, und ich schwöre bei meiner Seele und bei der von unserem Kind, daß es die Wahrheit ist. Es ist die Wahrheit! «
     
    Sie lief taumelnd durch London, ihr Leib schmerzte, ihre Seiten stachen und jeder mühsame Atemzug tat ihr weh. Sie sah kaum, wohin sie ging, ihre Augen richteten sich zum Himmel, auf dem langgezogene, violette Wolken als schlanke Fahnen über ein lichtblaues Wasser zogen und zwischendurch vereinzelte Sonnenstrahlen zur Erde blitzen ließen. Grünliche Dachschindeln und graues Pflaster fingen das Licht auf und gaben es schimmernd zurück. Irgendwann an diesem Tag mußte es geregnet haben, denn zwischen den Steinen standen tiefe Pfützen, düstere Tümpel im Schatten und helle Abbilder des Himmels in der Sonne. Mary tappte ohne Zögern durch sie hindurch. Sie vermochte sich kaum noch auf den Beinen zu halten und sie war so eingesponnen in ihren Schmerz, daß sie weder Menschen noch Häuser oder den Weg unter ihren Füßen wahrnahm. Sie lief und blieb erst auf der London Bridge stehen, beide Hände um das Geländer verkrampft und mühsam nach Luft ringend. Hinter ihr gingen Menschen, die sie aber nur aus den Augenwinkeln wahrnahm, eine Frau, die eine große, rote Haube auf dem Kopf trug, die
Mary an eine fette Tomate erinnerte und sich, in all den zerfließenden, undeutlichen Schatten dieses Frühsommerabends seltsam zäh in ihr Gedächtnis eingrub. Vor ihr strömte der Fluß, tief unter ihr, grau und schmutzig, aber von hier oben konnte sie die Algen erkennen, leblose, lange, dunkelgrüne Fetzen, die mit der Strömung lagen, aber unverändert an ihrem Platz blieben. Schiffe und Kähne glitten langsam über das Wasser. Häuser und Bäume warfen schon lange Schatten, Stimmen und Gelächter wurden sanfter, die Sonne stand blaßrot am Himmel, die violetten Wolkenfahnen zerteilten sich und lösten sich auf geheimnisvolle Weise in Nichts auf. Die Wellen der Themse glitzerten so stark, daß es Mary in den Augen wehtat. Wie gebannt starrte sie in den hellen Schein hinunter, in das starke, gleichmäßige, sanfte Strömen. Sie fühlte keine Kraft mehr. Sie hatte nichts mehr als die Sehnsucht, diesem entsetzlichen Schmerz zu entfliehen, den sie nicht aushielt und von dem sie sicher war, daß er bis in alle Ewigkeit andauern würde. Diesmal brachte sie es nicht fertig, zu

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