Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
sanfter, warmer Apriltag im Jahre 1540. Eine glänzend goldene Sonne stand am wasserblauen Himmel, und ihre Strahlen fielen bis in die engsten Gassen, ließen Unkrautbüschel zwischen den Pflastersteinen hellgrün leuchten und malten weiße Flecken auf wintermüde Gesichter. London erwachte zu neuem Leben. Die Menschen saßen wieder auf den Stufen vor den Häusern oder lehnten mit großen Gemüsekörben am Arm an einer Wand und lachten und lästerten. Eine heitere, gelassene Stimmung breitete sich aus, an der nicht einmal die politischen Unruhen der letzten Wochen etwas ändern konnten. Ein Krieg mit Habsburg schwebte drohend in der Luft. Cromwell und Norfolk lagen sich wie üblich in den Haaren und niemand wußte, was geschehen würde, aber an diesem ersten herrlichen Frühlingstag war auch niemand bereit, darüber nachzudenken. Man wollte nicht mehr, als sich den warmen Wind um die Nase wehen lassen und an den frischgepflückten Blumensträußen schnuppern, die in allen Straßen feilgehalten wurden.
Mary gehörte zu den wenigen Menschen, die an diesem Tag weder auf blühende Blumen noch auf warme Steine, die zum Ausruhen einluden, achteten. Sie hastete durch die Straßen, den Kopf gesenkt und einen düsteren Ausdruck auf dem Gesicht. Sie trug eines der hübschen Kleider, die Nicolas ihr geschenkt hatte, aber es war inzwischen schon alt und wirkte abgetragen. Sie hatte keinen Hut auf, sondern ihre rotbraunen Locken flatterten wild und ungeordnet hinter ihr her. Die Arme hatte sie vor der Brust verschränkt, als fröstele
sie oder nehme unbewußt eine Haltung der Abwehr ein, damit nur ja keiner es wagte, sie anzusprechen. Sie fühlte sich nicht in der Stimmung, mit anderen Menschen zu plaudern, weil sie zu viele Sorgen hatte. Außerdem mußte sie rasch nach Hause, weil die kleine Jane wartete.
Sie kam von Bartholomew Bloom, dem alten Anwalt, mit dem sie inzwischen eine tiefe Freundschaft verband. Sie arbeitete noch immer für ihn, wobei sie beide in vollendetem Takt und nach einer unausgesprochenen Vereinbarung darüber schwiegen, daß es im Grunde gar nichts mehr zu arbeiten gab. Mary ordnete die Bücher neu, setzte umständliche Schriftstücke auf, die kein Mensch las, und bildete sich im übrigen selbst weiter, wohl wissend, daß sie alle ihre Kenntnisse nie wirklich würde anwenden können.
In den vergangenen vier Jahren war Bartholomew sehr gealtert. Er konnte sich kaum noch bewegen, und obwohl er geistig noch sehr wach war, fiel ihm das Sprechen schwer, was wiederum die Klienten verunsicherte. Nach und nach blieben sie aus. Kaum einer fand noch den Weg in die Catneys Inn Alley und die steile, knarrende Treppe zu Mr. Blooms Wohnung hinauf. Morgens fiel ein bißchen Sonne durch das kleine Fenster auf den Schreibtisch, wanderte über die abgenutzten Sessel und den schäbigen Teppich, verweilte zum Abschied kurz auf ein paar staubigen Büchern und verschwand so unvermittelt, wie sie gekommen war. Wenn es dämmerte, kam die Wirtin herauf und brachte Bloom etwas zu essen. Sie hing mit ihrem ganzen Herzen an dem alten Mann, weshalb sie sich beständig um sein Wohlergehen sorgte und ihn sogar umsonst bei sich wohnen ließ. Er konnte schon lange keine Miete mehr zahlen, aber sie versicherte ihm täglich neu, daß er bis an sein seliges Ende bei ihr bleiben und auf ihre Hilfe zählen könne.
Für Mary sah die Zukunft weniger gut aus. Vier Jahre waren vergangen seit den schrecklichen Tagen, in denen Nicolas verhaftet, zum Tode verurteilt und begnadigt worden war, sechs weitere würden vergehen, bis er das Gefängnis verlassen durfte. Bis dahin mußten Mary und Jane allein durchkommen. Mary bekam keine Erlaubnis, Nicolas im Kerker zu besuchen, daher wußte sie nicht, in welchem Zustand er sich inzwischen befand. Anfangs war sie beinahe
täglich zum Tower gelaufen, hatte die Wärter angefleht, ihn für einen Augenblick nur sehen zu dürfen, hatte gebettelt, gejammert, geflucht und gestritten. Sie gab auf, als man ihr hart erklärte, in Zukunft werde man nicht einmal ihre Briefe weitergeben, wenn sie sich noch einmal blicken ließe. Diese Drohung schüchterte sie ein, denn das Schreiben war das einzige, was ihnen geblieben war. Doch in ihren Briefen logen beide. Mary berichtete, daß es ihr gutgehe und verschwieg, daß sie kaum noch wußte, wo sie jeden Tag Geld für Nahrungsmittel hernehmen sollte. Ihren Schilderungen nach stürmte halb London das Anwaltsbüro von Bartholomew Bloom und sie konnten sich vor Aufträgen
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