Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
sagen:
»Ich muß hindurch, von irgendwo wird die Kraft kommen, die ich brauche!« Diesmal war es zu schlimm. Sie war am Ende, vor ihr lag der Fluß, rauschend, wispernd, lockend, von tanzenden Irrlichtern umspielt, von einem hohen, blaßblauen Himmel überwölbt. Die Luft war mild und weich. Es müßte wie Fliegen sein und dann wie Untertauchen in ein dunkelgrünes Gewölbe aus Algen und aus den Zweigen eines Weidenbaumes. Sie öffnete schwach den Mund zu einem tonlosen Seufzer, sie lehnte sich vor, die Haare fielen ihr übers Gesicht, und die verkrampften Hände, deren Knöchel schon weiß hervortraten, lockerten sich. Von weither vernahm sie einen Schrei, dann fühlte sie sich am Arm gepackt und herumgerissen. Der Zauber um sie zerbrach, das glitzernde Wasser wurde zur schmutzig-grauen Themse. Mit weitoffenen Augen blickte sie ihr Gegenüber an. Es war die Frau mit der Tomate auf dem Kopf. Sie hielt sie fest und musterte sie aus freundlichen, grauen Augen.
»Aber, Madame, was machen Sie denn da? Beinahe wären Sie gestürzt! «
Unter der klaren Stimme zerriß die letzte Betäubung. Mit zitternden
Händen strich sich Mary die Haare aus dem schweißnassen Gesicht.
»O ja, beinahe wäre ich gestürzt«, sagte sie schwach, »ich... ich wußte gar nicht mehr, wer ich bin und wo ich war.«
»Kind, was haben Sie denn? Sie sind ganz grau im Gesicht. Kann ich Ihnen helfen?«
Schaudernd wandte sich Mary um. Tief unten funkelten die Wellen. Sie hätte es geschafft. Sie konnte nicht schwimmen, sie hatte es nie gelernt. Alle Schiffe waren weit weg.
»O Gott«, sagte sie.
Die Frau lächelte.
»Sie sollten Gott danken. Er hat Sie eben vor einer schweren Sünde bewahrt. Möchten Sie mir erzählen, warum Sie geglaubt haben, dies sei der einzige Ausweg? «
»Es ist... ich kann nicht darüber sprechen.« Ich sterbe, wenn ich darüber spreche, dachte sie. Die Tomate zerfloß vor ihren Augen, die Beine knickten ihr weg. Entsetzt meinte sie, sie würde vielleicht doch noch sterben. Das war die Rache Gottes, weil sie in seine Geschicke hatte eingreifen wollen. Mit aller Kraft wehrte sie sich gegen die Ohnmacht. Nein, sie wollte nicht, sie wollte nicht sterben ! Sie dachte an ihr Kind und an Will, dem sie es heute mittag in die Arme gedrückt hatte, wie ein abgelegtes Kleidungsstück. Hilfesuchend griff sie nach dem Arm der Frau. Sie nahm all ihre Vernunft zusammen. So ein Unsinn, sie würde nicht sterben. Woran auch? An Schwäche, an Kummer? Gott hatte sie nicht Frederic, das Armenhaus, die Geburt ihrer Tochter, die Themse überleben lassen, bloß damit sie nun hier aus heiterem Himmel tot umfiel! Und er hatte ihr nicht das Kind geschenkt, Nicolas’ Kind, damit sie es feige im Stich ließ. Auf einmal fühlte sie neue Lebendigkeit in sich. Das war die Kraft, von der sie diesmal nicht geglaubt hatte, sie werde zu ihr zurückkehren. Sie wurde gebraucht, sie stand nicht allein. Sie hatte Verantwortung, und sie hörte Nicolas’ Worte:
» Du wirst deine Zeit nicht mit Trauern vertun. Du wirst für unser Kind sorgen!«
Nicht trauern! Sie hatte das Gefühl, es zerfetzte ihr das Herz, so
trauerte sie. Aber sie würde für das Kind sorgen, Nicolas sollte sich nicht getäuscht haben. Sie richtete sich gerade auf.
»Jetzt haben Sie wieder etwas Farbe«, meinte die Frau zu ihr, »soll ich Sie nach Hause begleiten?«
»Danke, es wird gehen. Es ist nicht mehr weit.«
»Und Sie... denken nicht mehr daran...«
»Nein, nein, bestimmt nie wieder. Es war nur für einen Moment... «
Offenbar klang sie überzeugend, denn die Frau nickte. Mary lächelte ihr noch einmal zu, ehe sie mit langsamen Schritten weiterging. Am Ende der Brücke blieb sie stehen. Sie hob einen Kieselstein auf und warf ihn mit einer wütenden Bewegung ins Wasser.
»Das ist alles, was du von mir bekommst«, sagte sie laut, »ich bringe mich nicht um, und in diesem verdammten Fluß schon gar nicht!«
Mary verließ in den nächsten Tagen ihr Bett nicht. Sie konnte das Sonnenlicht nicht ertragen, es quälte sie schlimmer, als es die schwärzeste Finsternis vermocht hätte. Sie litt furchtbare Kopfschmerzen und fuhr ihre schreiende kleine Tochter einmal so kräftig an, daß Myrrhinia sie ihr aus dem Arm nahm.
»Das ist alles kein Grund, die Kleine so schlecht zu behandeln«, fauchte sie, »zeigen Sie doch mal ein bißchen Verantwortungsgefühl!«
»Weiß Gott, das hab’ ich gezeigt! Wenn nicht, dann hätte ich nämlich... ach, Unsinn!« Es hatte keinen Sinn, mit
Weitere Kostenlose Bücher