Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
sich darüber Rechenschaft ablegen zu können, wurde Cathleen von einem Gefühl der Rührung ergriffen. Sie hatte einmal eine verwahrloste Katze erlebt, der eine fremde Frau mitleidig ein Stück Fleisch zugeworfen hatte, es dann aber, weil sie fürchtete,
die Katze werde sich verschlucken und ersticken, wieder weggezogen und zerkleinert hatte. Die Katze, ein erbärmliches Skelett und wild vor Hunger, wissend, daß ihr Überleben von diesem Stück Fleisch abhing, glaubte, das kostbare Geschenk solle ihr entrissen werden und sprang der Frau kratzend und fauchend mit allen vier Pfoten und gezückten Krallen ins Gesicht, ein wütend spuckendes Bündel aus Angst und Verzweiflung und in den Augen dieselbe müde Traurigkeit, die sie jetzt auch bei Mary sah. Sanftes Mitleid erwachte in Cathleen und eine zaghafte Bewunderung für die Tapferkeit, mit der Mary für sich und die Ihren zu sorgen bereit war. Ohne es recht zu wollen, lächelte sie ihr kameradschaftlich zu. Über Marys Gesicht glitt ein Ausdruck der Verwunderung, dann lächelte sie zögernd zurück. Erstaunt erkannte sie, daß Cathleen keineswegs ihre Feindin war und daß sie keinen Abscheu vor ihr empfand, sondern sie sogar verstand, obwohl sie selber niemals so gehandelt hätte.
An der Wand zeichnete sich der scharf geschnittene Schatten von Annes hagerer Gestalt ab; sie stand über das Papier gebeugt und schrieb mit wütender Heftigkeit. Mary wußte, heute endlich hielt sie den Schlüssel in den Händen zu dem Leben, von dem sie immer geträumt, an das sie mit aller Kraft geglaubt hatte. Und heftig und nah wie selten in den vergangenen Jahren trat Nicolas in ihre Gedanken und voll überströmender Zuversicht dachte sie: Oh, Nicolas, auch für dich tu’ ich das hier! Für dich und Jane. Wenn du zurückkehrst, dann wirst du das Paradies finden. Unser Marmalon, unsere Heimat, Land, so weit das Auge reicht, Wiesen und Felder und Erde. Ach, Nicolas, wir werden nie mehr arm sein, und nie wieder vor etwas Angst haben.
Sie ergriff das zusammengerollte Papier, das Anne ihr reichte, drückte es an ihre Brust und meinte, es müsse erzittern unter ihrem freudigen Herzschlag. Der Triumph, den sie empfand, galt weniger ihrem Sieg über die zornige Anne Brisbane; er war Ausdruck ihres Glückes darüber, daß jene Ehrenhaftigkeit in ihr, von der Bess gesagt hatte, sie werde sie ein Leben lang auf die Nase fallen lassen, von ihr überlistet worden war. Es war das überraschte Glück des Friedfertigen, der seine Feinde zum ersten Mal mit deren eigenen
Waffen schlägt und erstaunt feststellt, wie mühelos sie ihn zum Meister der Kriegführung werden lassen.
Hinter den Mauern von Rosewood ging leuchtendrot die Sonne unter. Der Himmel hatte eine mattblaue Farbe angenommen und wurde von rötlichgelben Wolkenbändern zerteilt, über die Wiesen legten sich lange, breite Schatten, auf den Blättern der Bäume, in denen ein leiser Wind spielte, lag letzte goldene Sonne. Am Horizont verschmolzen Erde und Luft in grauer Dämmerung, von irgendwoher tönte das Plätschern eines Baches. Die Spitzen des Efeus unter dem Dach von Rosewood flammten auf, während aus den unteren Fenstern schon Kerzen in die einfallende Dunkelheit schienen. Eine Kuh muhte sanft und tief, andere Kühe antworteten ihr, Hühner gackerten und schritten mit nickenden Köpfen ihrem Stall zu, Tauben hoben sich in die Luft und zwitschernde Vögel erwiderten aus den Bäumen heraus ihren Flügelschlag. Es wurde rasch kühl, denn es war Anfang Juni, es gab noch keine warmen Sommernächte; die seidenweiche, zarte Wärme des Tages ging über in feuchte Kühle, in der der Geruch von Erde, Blüten und Honig schwang.
Kaum hatte die Kutsche das Holzschild mit der Aufschrift Rosewood passiert, war Mary auch schon von dem eigenartigen Zauber dieses Landes ergriffen worden, und sie wußte sogleich, daß er sie nie wieder loslassen würde. Sie kannte das östliche Essex von jenem Winter mit Cathleen und Anne in Lavender Manor her, und wie damals zog sie die Schönheit dieses Landstrichs sogleich in ihren Bann. Die leuchtendgrünen Wiesen, die Kornfelder, die salzige Luft entzückten sie. Dieses Land war reich und üppig, dabei sauber und unverbraucht, von einer Frische, die übernatürlich schien. Und natürlich, es war auch ein bißchen Heimat, denn es erinnerte sie an Kent, und sie konnte sich die himmelhohen Türme von Canterbury auch hier vorstellen.
»Mutter, sind wir jetzt da?« fragte Jane quengelnd aus den Tiefen ihres
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