Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
ausgewogene Mischung aus Regen und Sonne, das Korn reifte heran und glänzte gesund und silbrig unter dem blauen Himmel. Aber es war zuwenig, viel zuwenig! Was Marmalon abwarf, reichte kaum, seine Bewohner satt zu machen. Sechsundvierzig Menschen lebten hier, und auch wenn zehn davon Kinder waren, wußte Mary kaum, woher sie Milch und Eier und Gemüse nehmen sollten.
»Wir brauchen viel mehr Kühe, mehr Hühner«, sagte sie verzweifelt zu Will, » ich werde das letzte Geld von Sherwood Inn dafür ausgeben. Ich wollte es für Notzeiten aufheben, aber ich fürchte, wir haben schon eine.«
Zusammen mit Mackenzie ritt sie auf den Markt nach Burnham, dem kleinen, nahe gelegenen Ort, und kaufte fünf Kühe und vierzig Hühner. Zwei der Kühe waren krank, wie sich schon bald herausstellte, und starben innerhalb von einer Woche, und die Hühner weigerten sich hartnäckig, in der neuen Umgebung Eier zu legen.
»Ich schlage euch einzeln den Kopf ab!« schrie Mary sie an. »Verdammte Viecher, alt und grau dürft ihr bei mir werden, aber legt endlich ein paar Eier!«
Immerhin entpuppten sich die von Mackenzie ausgesuchten Arbeiter tatsächlich als fleißig und anstellig. Sie waren wortkarg, in dumpfe Gedanken vergraben, sie beteten viel und hingen in düsterem Grübeln einer vergangenen Zeit nach, aber sie rackerten sich von früh bis spät ab, so, als wollten sie durch unermüdliches Tun den finsteren Dämonen ihrer Erinnerungen entfliehen. Einer von
ihnen fiel als besonders intelligent auf. Er hieß Thomas Tallentire, war Priester gewesen und hatte das berühmte Jesus College in Cambridge absolviert. Er konnte hart auf dem Feld arbeiten, aber natürlich war das eine Verschwendung seiner wahren Fähigkeiten. Mary machte ihn zu ihrem Verwalter, er durfte ins Haupthaus umsiedeln, und gemeinsam saßen sie ganze Nächte lang am Schreibtisch und stellten komplizierte Berechnungen darüber auf, wieviel von der zu erwartenden Ernte sie würden verkaufen können. Sie kamen zu dem trüben Ergebnis, daß es nicht viel sein würde.
»Es sind nur wenige Felder bestellt«, sagte Tallentire, »und fast den ganzen Hafer und Heu brauchen wir für unser Vieh. Die Gerste könnte ein bißchen Geld einbringen, aber für unser Brot brauchen wir auch einen guten Teil davon. Gemüse und Obst sind wenig angebaut worden...«
»Jaja, ich weiß. Oh, Gott verdamme diesen elenden Teufel Mackenzie... ach, verzeihen Sie bitte«, es wurde Mary bewußt, daß Tallentire ein Mann Gottes gewesen war, denn er war blaß geworden und hatte sich unwillkürlich bekreuzigt, »es tut mir leid. Ich rede wie eine dahergelaufene Schlampe. Aber manchmal kann ich einfach nicht mehr.«
»Ich verstehe Sie ja, Madam.« Tallentire musterte sie mitleidig. Sie war so mager und viel zu blaß, und weil sie kaum noch schlief, hatte sie rote, entzündete Augen und geschwollene Lider. Sie war gereizt und oft auch unbeherrscht.
Doch wer, so dachte Tallentire, wollte es ihr verübeln? Bei Jesus, er mochte nicht in ihrer Haut stecken! Diese zarte Frau, weshalb hatte sie sich soviel aufgebürdet?
»Warum haben Sie ausgerechnet Marmalon gekauft?« fragte er vorsichtig.
Mary strich sich müde die Haare aus der Stirn.
»Ich habe es nicht gekauft. Wie ich an Marmalon gekommen bin, das ist eine sehr verworrene Geschichte. Aber ich hätte auch die Möglichkeit gehabt, ein reiches, gesundes Gut zu bekommen. Warum Marmalon?« Der Blick ihrer müden Augen glitt an Tallentire vorüber, zum Fenster hinaus in den Sternenhimmel einer Sommernacht.
»Ich habe mich als Kind schon in dieses Land verliebt. Und dann war es wohl auch so, daß ich mir mit Arbeit ein Recht auf diesen Besitz erwerben wollte. Mein schlechtes Gewissen... ach, ich glaube, das war es.«
Tallentire verstand nicht im mindesten, wovon sie sprach, aber er hörte ihr ruhig zu.
»Ohne Gewissen«, fuhr sie still fort, »wären wir viel mutiger und erreichten viel mehr im Leben.«
»Wir wären heillose Sünder, Madam.«
Sie lachte bitter.
»Das sind wir auch so, oder nicht?«
Der Sommer ging dahin, das Land war voller Unruhe, aber Mary merkte kaum etwas davon, sah keinen Fingerbreit über die Felder von Marmalon hinaus und scherte sich um nichts, was sie nicht unmittelbar betraf. Die Lutheraner Englands tobten vor Entrüstung und verharrten dann in stummer Erschütterung, weil ihr großer Fürsprecher, Thomas Cromwell, in Tyburn hingerichtet wurde. Cromwell hatte bis zuletzt eisern das Bündnis mit Kleve vertreten und
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