Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
sehr, daß sie sich rasch vom Fenster abwandte und eilig das Zimmer verließ. Sie lief die Treppe hinunter in die Halle, zog sich einen alten, dünngescheuerten Fellmantel über ihr Kleid und trat hinaus in den Hof. Die bittere Kälte, die sie empfing, tat ihrem aufgewühlten Gemüt gut. Tief atmete sie die klare Luft. Die Wolken hingen tief, aber es schneite nicht, ein leichter Wind wehte, unter den Füßen knirschte der Schnee. Mary blickte die Auffahrt entlang, deren Weg sich zwischen den Bäumen irgendwo in einer weißen Wüste verlor. Wie magisch angezogen lief sie darauf zu. Sie ging immer schneller, so schnell, daß sie schwer zu atmen begann und die Kälte in ihren Lungen schmerzte. Sie lief über das Land, das sie liebte und das sie mit beiden Armen hätte umfassen und an sich ziehen mögen. Unter dem Schnee schimmerte das feuchte Braun der Äcker, dünn konnte sie die frostüberzogenen Grasnarben auf den Feldwegen erkennen. Die Krähen flatterten bei ihrem Nahen aufgestört davon, zwei zarte, schmale Rehe verschwanden wie unmerkliche Schatten im Wald. Viele Plätze, an denen sie vorüberkam, riefen in Mary Erinnerungen an den Sommer wach: der Bach, in dessen Wasser sie sich an heißen Tagen die Füße gekühlt, die gewaltige Eiche, in deren Schatten sie sich ausgeruht hatte. Dort drüben dieser Acker, im ersten Jahr war sie selber mit den Männern darübergestapft und hatte ihn von Gras und Disteln befreit; noch heute spürte sie die elenden Schmerzen im Kreuz, die sie Abend für Abend nur stöhnend und humpelnd den Heimweg hatten antreten lassen.
Aber gerade diese Erinnerungen wurden ihr heute so süß. Gerade die Tatsache, daß sie wie ein Knecht geschuftet hatte, um Marmalon in die Höhe zu bringen, machte den Abschied so bitter und grausam. Sie hatte das Gut nicht geerbt, war nicht der dekadente Sproß einer alten Familie, der gelangweilt auf dem seit Jahrhunderten eigenen Boden herumsaß. Sie hatte sich Marmalon erkämpft. Es mit Schweiß und Tränen, Schmerzen und Müdigkeit erkauft.
Zum Teufel, Claybourgh, dachte sie, wenn du nur wüßtest, wie sehr ich dich hasse! Wenn du wüßtest, wie es jetzt in meiner Seele aussieht, du bekämst Angst vor mir!
Sie war auf der Höhe der Schafställe angelangt und hielt erschöpft inne. Ihre Seiten stachen, ihr war so warm, daß das Kleid feucht an ihren Schultern klebte. Sie sah sich um und entdeckte nicht weit von sich eine Gestalt, einen Reiter, der unbeweglich auf seinem ruhig stehenden Pferd saß, und gleich ihr in die Gegend schaute. Er hatte sie noch nicht erkannt. Sie ging auf ihn zu und bemerkte im Näherkommen, daß es Charles Mackenzie war.
Als er ihre Schritte hörte, drehte er sich um und lächelte. »Ah, Mrs. de Maurois, wie schön, Sie hier zu treffen«, sagte er, »aber zu Fuß? Sind Sie vom Pferd gestürzt?«
Der Spott in seiner Stimme verärgerte Mary. Gereizt erwiderte sie: »Lassen Sie Ihre albernen Bemerkungen, Charles. Ich mache nur einen Spaziergang, das ist alles.« Sie bemühte sich, ihn nicht merken zu lassen, wie atemlos sie war. Er brauchte nicht zu wissen, daß sie hier wie von Furien gejagt herumlief und nicht wußte, wie sie mit ihrem Kummer fertig werden sollte. Sie haßte es, Schwächen zuzugeben, und im Augenblick fühlte sie sich so schwach wie noch nie in ihrem Leben.
Charles bemerkte, wie mühsam sie sich zur Ruhe zwang, aber zu seiner eigenen Überraschung blieb er ganz ruhig. Er sprang vom Pferd und nahm es am Zügel. »Wenn Sie nichts dagegen haben, begleite ich Sie auf Ihrem Spaziergang«, sagte er, »denn wir tun doch ohnehin beide gerade dasselbe!«
»So? Was tun wir denn?«
»Wir nehmen Abschied, Mary. Wir konnten es im Haus nicht mehr aushalten. Wir mußten alles noch einmal sehen, um es ganz
fest in unser Gedächtnis schließen zu können und nichts davon je zu vergessen. Wir können uns nicht losreißen.«
Sie blickte ihn an, um zu sehen, ob er ernst meinte, was er sagte, entdeckte aber keinen Spott, sondern nur Wärme und Güte. Sie schlug die Augen nieder.
»Ja«, sagte sie müde, »ja, ich nehme Abschied. Aber, Charles, bitte, nicht davon sprechen. Ich muß sonst weinen!«
»Ich werde nicht davon sprechen«, erwiderte er leise, »dich weinen zu sehen wäre das Schlimmste.« Er sah auf die magere Gestalt vor ihm, bemerkte, wie ein Zittern sie durchlief, als der Wind schärfer durch ihren dünnen Mantel drang. Verzweifelt dachte er, daß er sein Leben geben würde, könnte er sie in seine Arme nehmen und
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