Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
an sich ziehen und ihr versichern, es werde alles gut werden. Er streckte den Arm aus, zog ihn aber zurück, als sie noch einmal den Kopf hob und ihn ansah. In ihren weitaufgerissenen Augen, die heute so grau waren wie der Winterhimmel, entdeckte er zum erstenmal das junge Mädchen, das sie einst gewesen war. Sie sah ihn flehentlich an, offen und unverschleiert, ohne jene Härte und Entschiedenheit, die sie sonst an den Tag legte.
»Aber, Charles, was sollen wir jetzt bloß tun?« fragte sie.
Er hob die Schultern, ebenso hilflos wie zornig. » Ich weiß es nicht, Mary. Ich weiß keinen Weg, obwohl ich seit Tagen und Nächten über nichts sonst mehr nachdenke. Mein Gott, wenn du wüßtest, was sie mir damit antun. Mir bedeutet dieses Land alles, in jedem einzelnen Moment denke ich von neuem, daß ich es nicht hergeben kann. Ich war so bettelarm als Kind, ich habe nie eine Heimat gekannt, und das hier, Marmalon, war alles für mich. Alles! «
Bei seinem vertraulichen Ton war zuerst ein Schatten der Überraschung über ihr Gesicht geglitten, aber dann verstand sie ihn nur zu gut. Ja, er konnte es nicht hergeben, es war seine Heimat, er war durch Armut und Elend gegangen und hatte sich an Marmalon geklammert wie ein Ertrinkender. Sie begriff ihn in jeder Regung. Es waren ihre eigenen Regungen, die er beim Namen nannte, und dies gab ihr Kraft. Sie spürte, daß er noch mehr litt als sie. Sie meinte, es nicht ertragen zu können, und wußte doch im tiefsten Inneren, daß
sie es ertragen konnte. Er aber wußte, er vermochte es wirklich nicht. Ihre Augen, die sekundenlang die eines geängstigten Kindes gewesen waren, nahmen den alten Ausdruck konzentrierter Entschlossenheit an. Unmerklich vertauschten sie und Charles die Rollen. Eben noch hatte sie an seinen Lippen gehangen, als erwarte sie von dort Hilfe, nun sah Charles sie an, als hoffe er, sie werden den Weg finden, den sie beide suchten.
»Charles, es hat keinen Sinn«, sagte sie streng, »uns hilft jetzt niemand. Wir können nur noch das hinnehmen, was geschehen ist. Jetzt kommen Sie, lassen Sie uns nach den Lämmern sehen und dann nach Hause gehen. Es wird zu kalt!« Sie schaute angewidert auf ihre durchweichten Füße und zog den Mantel enger um sich. Ein paar Schneeflocken fielen vom Himmel. Charles, der Mary den Abhang hinunter zu den Schafställen folgte und sie beobachtete, wie sie durch den Schnee vor ihm herstapfte, fand plötzlich, daß sie zu diesem Land gehörte, als sei sie untrennbar mit ihm verwachsen.
Es ist ein Verbrechen, dachte er, Claybourgh, dieser verfluchte Teufel tut ihr das Schlimmste an, was man ihr nur antun kann!
Der Blick, den sie ihm vor wenigen Momenten geschenkt hatte, ließ ihn nicht mehr los. Er hatte nicht geglaubt, daß sie noch so jung und hilflos aussehen konnte. So schwach und zart. Schwach...
Sie ist nie, niemals schwach gewesen, dachte er, nur dieses Land, nur die Angst um ihr Marmalon hat ihr das Geständnis entreißen können, hilflos zu sein. Das Land ist es, was uns beide verbindet, und das habe ich ihrem Mann voraus, die Sorge um das Land teilt sie mit mir, und für Augenblicke konnte ich in ihr Inneres sehen...
Er schaute über die Schneefelder zum Horizont, an dem sich Himmel und Erde in einem hellgrauen Schleier verwoben. Scharf zeichneten sich davor ein paar kahle Bäume ab. Langsam senkte sich die Dämmerung hinab. Mary stieß die Tür zum Schafstall auf. Charles, der sein Pferd unter dem überragenden Dach draußen festband, begriff, daß er an Marmalon vor allem deshalb so erbittert festhielt, weil es das einzige war, was ihn mit Mary verband. Und daß er mehr als Wiesen und Wälder, sprudelnde Bäche und blauen Himmel die magere junge Frau liebte, die sich aus der Dunkelheit des warmen Schafstalles zu ihm umwandte.
»Charles, ich denke, wir sollten...« begann sie, brach aber erschrocken ab, als er sie mit beiden Armen umfaßte und an sich zog.
»Mary, bitte, hör mir zu«, sagte er hastig und dachte: Wenn wir Marmalon verlieren, verliere ich sie. Sie liebt mich nicht. Sie hat mich nie geliebt. Sie liebt den Mann, mit dem sie verheiratet ist, und wenn uns erst das Land genommen ist, bleibt überhaupt nichts mehr für mich.
»Mary, ich finde einen Weg!« Seine Stimme klang atemlos. »Ich lasse es nicht zu. Ich liebe dich, und...«
Ihre erste Überraschung verflog, sie fand ihre Sprache wieder.
»Charles, was soll der Unsinn?« fragte sie nervös, während sie versuchte, sich aus seinen Armen zu winden.
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