Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
meinem Pferd nach Hause reiten«, sagte er, aber Mary schüttelte den Kopf.
»Nein. Nein, das wäre nicht gut. Reite du, ich komme nach.«
»Sie werden es uns nicht gleich ansehen, Liebste!«
»Trotzdem. Ich laufe sowieso lieber.« Sie öffnete die Stalltür und trat hinaus. Der Wind hatte die Wolken auseinandergetrieben und vom dunklen Himmel blinkten Sterne und schien ein beinahe voller Mond. Sein Licht malte einen silberfarbenen Schein auf die Schneefelder und machte die schwarzen Bäume zu finsteren Gespenstern. Charles wollte etwas sagen, irgend etwas, was Mary unbedingt zurückhalten mußte, aber es fiel ihm nichts ein. Er blieb in der Tür stehen und dachte, daß er sie nicht gehen lassen konnte, aber da ging sie schon davon, langsam, weil ihr langer Rock schwer im Schnee schleifte, und sehr aufrecht. Ihre Füße hinterließen zarte Spuren. Er sah ihrer immer dunkler werdenden Gestalt nach und wußte, daß sie bereits dabei war, diese größte Niederlage ihres Lebens zu überstehen. Auf einmal dachte er, daß er das Ende leichter aushalten würde, wenn Mary mit Marmalon zusammenbräche. Hätte sie geweint und gejammert, hätte sie in seinen Armen wirklich Zuflucht
gesucht, so hätte ihm das Kraft gegeben. Doch sie davonstapfen zu sehen, müde, aber gefaßt, einer neuen Zukunft entgegen, in der er keine Rolle mehr spielen würde, dies anzusehen, machte ihn rasend. Von allem, was geschah, schien ihm ihre Tapferkeit am unerträglichsten.
Wenige Tage später, am Weihnachtsmorgen, bekam Mary einen Brief von Nicolas. In all ihrem Kummer bedeutete es für sie einen Trost, zu erfahren, daß er gesund war, aber die Traurigkeit, die aus seinen Zeilen sprach, erschreckte sie. Sie saß auf der Treppe in der Eingangshalle und hielt das schmutzige, zerknitterte Papier in den Händen, las die Worte, die Nicolas für sie geschrieben hatte, und die sicherlich von einem halben Dutzend Wärter gelesen worden waren, ehe sie sie erreichten. Diese Vorstellung erfüllte Mary jedesmal mit Zorn. Dreckige Bastarde, wahrscheinlich lachten sie noch über das, was für Nicolas ernst und wichtig war. Ihre Hände zitterten, während sie las. Nicolas wußte nichts von ihren Schwierigkeiten, er ahnte nicht, daß ihr das Wasser bis zum Hals stand, aber etwas von ihrer Not mußte in ihren Briefen deutlich geworden sein, sosehr sie sich bemühte, alles zu beschönigen.
»Sei ein bißchen rücksichtsvoller mit Dir, Liebste«, schrieb er, »es macht sich nicht bezahlt, Gesundheit und Ruhe hinzugeben für ein paar Farthings mehr oder weniger. Besitztümer sind nicht so wichtig. Seit ich in diesem gottverdammten Verlies vegetiere, weiß ich, was wichtig ist. Freiheit, Mary, nur Freiheit. Du sagst, das Geld gibt Dir Freiheit, aber frage Dich einmal, ob Du Dich nicht schon längst wieder zum Sklaven dieses Denkens gemacht hast. Laß Marmalon nicht zu deinem Tyrannen werden! Doch wer bin ich, Dir das zu sagen. Im Tower eingekerkert, aber Freiheit predigen. Ich habe geglaubt, ich könnte in meinen Gedanken frei bleiben, aber nicht einmal das gelingt mir. Tag und Nacht träume ich von der Freiheit, der Traum wird zur Besessenheit, er knechtet mein Denken und Fühlen. Oh, Mary, ich fühle, ich werde wahnsinnig dabei...«
Mary ließ den Brief sinken, sann den Worten nach. Was sie dort las, erschien ihr wie ein langsames, aber unaufhaltsames Zerbrechen. Die Zeiten waren vorbei, da Nicolas versuchte, hatte ihr einzureden,
jeder Tag im Tower sei ein einziges lustiges Abenteuer. Sein beißender Spott war verloschen, seine bittere Ironie auch. Es hatte Jahre gegeben, da war er über sein Schicksal hergezogen, als ließe es ihn im Innersten kalt. Er war Nicolas de Maurois, der König der Taschendiebe, und sie konnten ihn einsperren, ihm aber weder seinen Scharfsinn noch seinen lästerlichen Spott über sie alle nehmen. Es hatte Mary beruhigt, das zu sehen. Nicolas blieb der Alte. Seiner unverwüstlichen Lebenslust konnten nicht einmal zehn Jahre Kerker etwas anhaben. Nun aber plötzlich verlor er seinen Hochmut, seine Schärfe, seine Ironie, mit der er auch sich betrachtet hatte. Er verfiel nicht einmal mehr in die alte hemmungslose Wut. Statt dessen überkam ihn eine tiefe Schwermut, und Mary mußte voller Schrecken an seinen Vater denken, den alten Maurois, der freiwillig in den Tod gegangen war, als er glaubte, das Leben nicht mehr ertragen zu können. Schnell schob sie diesen Gedanken beiseite.
»Du nicht, Nicolas«, murmelte sie, »du hast ja
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