Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Sie legte ihre Hände darauf und spürte die Wärme und das Zittern seiner Finger. »Mary, ich liebe dich mehr als jeden anderen Menschen«, flüsterte er, »mehr als ich Brenda je geliebt habe. Ich liebe dich, ich liebe dich...«
Sie wollte etwas erwidern, aber ehe sie die Worte formen konnte, stieg ihre Lust wieder an, so schnell wie niemals vorher. Sie konnte Charles’ Gesicht nur schwach erkennen, denn jetzt wurde es dunkel draußen, aber Mary fühlte sich frei und glücklich. Zwischen diesem Abend und den Nächten mit Nicolas lagen sechs Jahre, und heute kam es ihr vor, als sei sie damals, so stürmisch Nicolas und sie einander auch liebten, doch im Inneren ein verspieltes, unschuldiges Kind gewesen, zu jung, um wirkliche Leidenschaft empfinden zu können. Heute war sie erfahren genug. Ihr Körper bewegte sich schnell, ihr Kopf kippte nach vorn, so daß ihre langen wirren Haare auf Charles’ Gesicht fielen. Er nahm eine ihrer Locken zwischen die Lippen, sie riß den Kopf zurück, ließ ihn nach hinten fallen, und ihre Kehle glänzte weiß in der Dunkelheit. Das hier, dachte sie, während sie entzückt und schwerelos zum zweiten Mal die Höhe ihrer Lust durchlebte, das hier ist vielleicht der einzige Sinn des Lebens. Nichts sonst... nicht einmal Marmalon...
Doch schon als sie neben ihm zur Seite fiel, schwer atmend, erschöpft und satt liegen blieb, langsam erwachte und begriff, daß sie zwei getrennte Wesen waren, da schon wußte sie, daß sie sich nicht
verwandeln konnte. Die Wirklichkeit kehrte zurück. Es war nicht mehr Sommer, sondern winterlich dunkel, das Heu knisterte und unten blökten die Lämmer. Sorgen und Not der vergangenen Wochen standen wieder glasklar vor Marys Augen. Sie richtete sich auf, griff nach ihrem Kleid und zog es an. Sie erhob sich, strich den Rock sorgfältig glatt und steckte mit beiden Händen ihre gelösten Locken auf. Charles sah ihr schweigend zu, dann griff er nach ihrem Arm, um sie erneut an sich zu ziehen, aber sie wich zurück. »Nein«, sagte sie spröde, »nicht. Es ist spät. Wir sollten nach Hause gehen.«
Charles sprang auf die Füße und zog sich ebenfalls an. Vorsichtig nahm er zwei Strohhalme von Marys Haaren.
»Wie verräterisch«, sagte er, »nun, was ist? Kommt jetzt wieder die große Reue?«
Mary zögerte. Sie fand es erschreckend, wie wenig sie das Geschehene in Wahrheit bereute. Es war zu schön gewesen, als daß sie gewünscht hätte, es wäre nicht geschehen, aber zugleich war es auch nicht mehr als ein kurzes Erlebnis. Marmalon, der Abschied, die Dämmerung, die Schneefelder... der Augenblick hatte sie weit mehr verführt, als die Leidenschaft von Charles Mackenzie. Es tat ihr weh, in seinen Augen zu sehen, was er empfand. Ihm ging es nahe; er hatte ihr viel mehr gegeben, als er von ihr zurückbekommen konnte.
Sie schlüpfte in ihren Mantel und ging zur Leiter. Durch das löchrige Dach fiel der Mondschein. Sie stand sehr aufrecht und wirkte streng und unnahbar mit ihrem blassen Gesicht und den zurückgenommenen Haaren.
Ganz große Lady, dachte er, nicht schlecht für ein kleines Mädchen ihrer Herkunft.
Er bemühte sich zu verbergen, wie weh ihm ihr überstürzter Aufbruch tat. Lässig bemerkte er: »So, nun haben wir wenigstens einen grandiosen Abschied gefeiert. Es bleibt uns nichts mehr, nicht?«
Sie schaute an ihm vorbei in eine Ecke, in der leise ein paar Mäuse raschelten.
»Nein«, erwiderte sie, »jetzt bleibt nichts mehr.«
»Wenn es noch eine Hoffnung gäbe...«
»Vielleicht gibt es eine. « Marys Gesicht wurde hart, ihre Lippen
schmal. »Wenn ich mit Claybourgh ins Bett ginge, dann würde er womöglich ...«
Mit zwei Schritten war Charles neben ihr, packte sie an den Schultern und schüttelte sie, so schmerzhaft, daß sie aufschrie.
»Das tust du nicht«, sagte er zornig, »Gott schütze dich, Mary, wenn du das tust!«
»Laß mich los. Ich tu’s ja nicht. Wenn ich das könnte, dann hätte ich es doch schon längst getan!«
Er ließ sie los und strich sich die Haarsträhne zurück, die ihm ins Gesicht gefallen war.
»Eher töte ich ihn«, sagte er leise.
Mary begann, die Leiter hinabzusteigen. »Sag nicht so dummes Zeug, Charles. Wir fallen schon beide wieder auf die Füße. Vielleicht kannst du ja sogar als Verwalter hierbleiben.«
»Glaubst du, das wollte ich?«
Sie waren unten angekommen und standen einander gegenüber. Keiner wußte, was er sagen sollte. Schließlich raffte sich Charles auf. »Wir können zusammen auf
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