Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
öffentlich als Hure bezeichnet wird.«
»Und, ist sie’s nicht?«
»Psst, nicht so laut! Du sprichst von dem Mädchen, das in wenigen Tagen Ihre Majestät Königin Anna von England sein wird.«
»Pah, und für wie lange?«
»Rede nicht so lästerlich. Vielleicht wird sie eine gute, ehrbare Königin. «
Mary lauschte diesen Gesprächen mit Vergnügen, während Anne es tatsächlich darauf anlegte, sie schnell unter die Haube zu bringen. In jedem Gasthaus achtete sie sorgfältig darauf, daß das Mädchen neben einem jungen Mann zu sitzen kam, den sie dann ins Gespräch zog und gleich darauf an Mary weitergab. Mary registrierte mit Stolz, daß sie den meisten Männern keineswegs gleichgültig blieb, aber sie beendete jede Unterhaltung nach kurzer Zeit mit einer schnippischen Bemerkung, erklärte, sie sei müde und verschwand. Anne war sehr ärgerlich darüber.
»Wenn dieser Bauer aus Shadow’s Eyes inzwischen ein anderes Mädchen geheiratet hat, stehst du dumm da«, sagte sie. »Du solltest endlich einsehen, daß ich nur dein Bestes im Sinn habe!«
»Ich heirate nur Frederic. Wenn nicht ihn, dann niemanden.«
»Rede keinen Unsinn! Jede Frau heiratet.«
»Sie haben es nicht getan.«
Anne zuckte zusammen, warf den Kopf zurück und verließ den Raum.
In London zogen sie in ihr altes Haus am Strand, aber wie auf eine unausgesprochene Verabredung hin mieden sie beide das Zimmer, in dem Lord Cavendors bewegtem Leben seinerzeit ein Ende gesetzt worden war. Mary lebte allerdings auch nicht mehr in ihrer Kammer unter dem Dach, sondern in einem kleinen Salon im Westflügel des Hauses. Sie vermißte ein bißchen den vertrauten Blick über die Themse, dafür hatte sie hier viel schönere Möbel und einen richtigen Kamin, in dem an diesen letzten kalten Frühlingstagen jeden Morgen ein Feuer gemacht wurde.
Sie begann wieder durch die Straßen Londons zu streifen und schneller als sie gedacht hatte, schlug die Stadt sie erneut in ihren Bann. Wegen der bevorstehenden Krönung war London voller Menschen, und noch mehr Eile, Gedränge und Geschrei erfüllten auch die kleinsten Gassen. Bereitwillig ließ sich Mary mitten in das laute Getümmel hineinziehen. Sie war begierig, alles zu erfahren, was in den Monaten ihrer Abwesenheit geschehen war und erfuhr, daß der neue Erzbischof von Canterbury, Thomas Cranmer, tatsächlich vom Papst selber in sein Amt berufen worden war, und zwar auf den Wunsch des Königs, und man wertete dies allgemein als einen Versuch des Vatikans, den Streit mit England nicht zu weit zu treiben. Cranmer hatte daraufhin sofort die Ehe zwischen Henry und Katharina für ungültig, die gemeinsame Tochter, Prinzessin Mary, für illegitim erklärt, nicht ahnend, daß diese ihn zwanzig Jahre später während ihrer Regierungszeit als berüchtigte »Bloody Mary« auf dem Scheiterhaufen dafür würde bezahlen lassen.
Nun warteten alle auf die Pfingstfeiertage, an denen die Krönung stattfinden sollte. Die ganze Stadt putzte sich schon heraus, mit Blumen, Fahnen und Lampions, Girlanden an den Häusern und Fackeln am Ufer der Themse. Welche Vorbehalte auch immer man gegen die neue Königin haben mochte, niemand wollte sich die Lust am Feiern nehmen lassen. Scharenweise strömten die Verkäufer in die Stadt, um am großen Tag Waffeln, gesalzenen Fisch, eingelegte Gurken, Zuckerstangen und Glühwein feilzubieten, dazu wahre Berge von Schmuck aus billigem, goldbemaltem Blech mit farbigen
Glassteinen darin, denn sie rechneten damit, daß der Anblick der juwelenbehangenen Königin viele Frauen zum Kaufen anregen würde. Es gab kleine handgemalte Miniaturbilder des Königspaares, Holzteller, Becher, Wandbehänge, Kinderspielzeug, sogar geschnitzte Löffel, alle mit den Gesichtern Henrys und Annas verziert. Die Verkaufsstände stapelten sich schon fast übereinander, und die Luft hallte wider von den dröhnenden Stimmen der Ausrufer.
Mary achtete darauf, schon früh morgens Anne zu entwischen, denn sie hatte es satt, beständig in die Arme irgendeines Mannes geschubst zu werden. Sie blieb meist den ganzen Tag fort und kehrte erst mit dem Einbruch der Dunkelheit heim, so auch an einem Tag kurz vor Pfingsten, an dem die Luft weich und warm war, und sogar im überfüllten London ein leiser Anflug von Blumenduft und frischer Erde im Wind schwang. Mary hatte seit dem Morgen nicht gegessen und kam am späten Nachmittag zurück in das Haus am Strand. Sie fühlte sich sehr hungrig, zugleich erschöpft und glücklich wie eine
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