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Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Titel: Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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winzigen Stall, wo sie es an einer Stange festband. Es sah viel zu schön aus für diese Umgebung, ein letztes Geschenk von Anne Brisbane. Müde strich sie sich über die Haare, zupfte ihr schwarzes, staubbedecktes, zerknittertes Kleid zurecht. Es kostete sie ihre ganze Überwindung, die schmale Tür aufzustoßen, die vom Stall ins Haus führte, und den Gang zu betreten.
    Es herrschte dasselbe Dämmerlicht wie stets. An einer weißgekalkten Wand auf einem Holzbrett flackerten zwei beinahe abgebrannte Kerzen. Der Fußboden war mit uralten Binsenmatten bedeckt, die so stanken, daß es Mary den Magen hob. Hier hatte seit ewigen Zeiten niemand mehr sauber gemacht. Sie kämpfte die Übelkeit nieder und schrak gleich darauf zusammen, als ihre Augen, die sich langsam an das Dämmerlicht gewohnten, eine unbewegliche Gestalt erblickten, die in der hintersten Ecke des Flures kauerte.
    »Ach«, sagte sie dann, »du bist es nur, Nan!«
    Nan, mit ihrem verrunzelten Gesicht und ihren trüben, gelben Augen, war nicht überrascht. Sie kicherte verstohlen.
    »Ich habe gewußt, daß du heute kommst«, sagte sie, »es stand in deinen Sternen.«
    Mary strich ihr über den Arm. »Ich komme wegen Mutter. Wie geht es ihr?«
    »Schlecht, Kind, schlecht. Sehr, sehr schlecht.«
    »Oh... und, Nan, weißt du vielleicht, ob Frederic Belville schon zurück ist?«
    Nan schüttelte den Kopf. »Er ist nicht hier. Aber er kommt bald, bald! Jetzt laß dich ansehen, Mary! Ein schönes Mädchen bist du geworden, ein wunderschönes Mädchen. Und erfahren...«
    Mary sah sie scharf an, aber Nan erwiderte den Blick völlig arglos. »So lange, rötlich schimmernde Haare und Augen, blau wie Saphire, in denen sich grauer Himmel spiegelt! Ah, und gesund bist
du! Nicht krank wie alle anderen.« Nan senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Wir hatten den Tod hier, Mary, viele, viele Wochen lang. Oh, sie sind alle gestorben, und geschrien haben sie, da unten im Keller, das habe ich gehört. Nachts sind sie dann gekommen und haben die Toten geholt, und solche, denen das Fieber die Kraft genommen hat, sich zu wehren. Begraben haben sie sie, bei lebendigem Leibe – aber nicht die alte Nan! Die alte Nan kriegen sie nicht!« Sie kicherte wieder. »Ich wußte, daß ich nicht sterbe. Meine Zeit ist noch nicht gekommen!« Sie hob ihre Messingkugel, ließ sie sacht hin und her schwingen.
    Mary ging an ihr vorbei und trat in die Küche, ganz aus Gewohnheit, denn dies war Lettices Reich gewesen und jeder, der nach Hause kam, begab sich als erstes dorthin zu ihr. Lettice, die die Räume, in denen die Armen hausten, immer hatte verdrecken lassen, hatte, wohl um eine deutliche Abgrenzung sichtbar werden zu lassen, streng darauf geachtet, daß die Küche vor Sauberkreit blitzte. Jetzt schlug Mary aus der Küche der übelste Gestank entgegen, den sie jemals gerochen hatte, eine Mischung aus saurer Milch, verdorbenen Eiern und faulendem Fleisch. Sie schnappte nach Luft, war plötzlich in Schweiß gebadet und erbrach sich zitternd in einen Holzeimer, der neben der Tür stand.
    Als sie sich wieder aufrichtete und sich leise stöhnend über die Stirn strich, sah sie ihren Vater und Edward, die einander gegenüber am Tisch saßen und mit aufgestützten Armen und tiefhängenden Köpfen aus großen Krügen ihr Bier schlürften. Ambrose wischte sich gerade mit dem Handrücken den Schaum vom Mund.
    »Was für ’ne schöne Begrüßung, Mary,« sagte er, »was besseres ist dir nicht eingefallen, wie?«
    »Ihr merkt es vielleicht nicht mehr«, entgegnete Mary, »aber nicht einmal das verdreckteste Londoner Hafenviertel stinkt so wie diese Küche!« Sie sah sich angewidert um. In allen Ecken türmte sich schmutziges Geschirr voll angeklebter Essensreste, dazwischen lagen fauliges Gemüse, ausgelaufene Eier und verschimmeltes Brot herum. Neben dem Ofen stapelten sich die verwesenden Kadaver von Hasen und Enten, die Edward erlegt, halb aufgegessen und dann irgendwo in die Küche geworfen hatte. Scharen von Fliegen
schwirrten darum herum, und in dem Fleisch selber wimmelte es von Würmern und Maden. Mary leckte sich über ihre ausgetrockneten Lippen. Im stillen befahl sie sich, diesmal ruhig zu bleiben.
    »Wo ist Mutter?« fragte sie.
    Über Ambroses kleines, knochenhartes Gesicht glitt eine leise Regung. »Im Schlafzimmer«, antwortete er, »sie stirbt. Hat Edward dir das gesagt?«
    »Deshalb bin ich hier.« Mary verließ die Küche wieder und kletterte die steile Leiter zum ersten Stock

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