Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
hinauf. Vor dem Schlafzimmer ihrer Eltern blieb sie stehen. Sie hatte Angst vor dem, was sie gleich sehen würde. Das Sterben selbst war ihr nicht fremd, aber sie begriff, daß es etwas anderes war, wenn die eigene Mutter starb. Vorsichtig stieß sie die morsche, wurmstichige Holztür auf.
Im Zimmer herrschte dämmriges Licht. Jemand hatte die Vorhänge zugezogen, die nun halbzerrissen, fleckig und brüchig vom Alter, den Raum vor hin und wieder die Wolken durchbrechenden Sonnenstrahlen schützten. Seit vielen Tagen konnte hier kein Fenster mehr geöffnet worden sein, denn die Luft war so stickig, daß man kaum atmen konnte. Auf dem Bett lag, völlig vergraben unter einer grauen Decke, eine zusammengekrümmte, flach atmende Gestalt. Rote Haare flossen über das Kopfkissen, aber nicht lockig und glänzend, sondern in fettigen, verklebten Strähnen. Eine knochige Hand hing schlaff über die Bettkante und vermochte sich wohl nicht einmal mehr zu heben, um die Fliegen zu verscheuchen.
Als Mary näherkam, öffnete Lettice die Augen. Ihr Blick war vom Fieber verschleiert, aber sie erkannte ihre Tochter, denn sie öffnete mühsam den Mund und murmelte: »Ah, du bist doch gekommen. Ich war nicht sicher, ob du’s tun würdest.«
»Aber es war selbstverständlich. Edward sagte, du seist sehr krank.«
»Sehr krank?« Lettice lächelte ihr wohlbekanntes, ironisches Lächeln, dessen kalte Überlegenheit nicht einmal durch die Krankheit entschärft wurde. »Sehr krank? Ich sterbe, Mary, das ist die verfluchte Wahrheit.«
Mary wußte, daß es keinen Sinn hatte, etwas Tröstendes zu erwidern, denn Lettice gab sich nie leeren Hoffnungen hin und nannte
das Leugnen von Tatsachen dumm und feige. Und sie sah so elend aus, daß sich niemand über den Ernst ihres Zustandes täuschen konnte. Das Fieber hatte ihr Gesicht ausgezehrt, ihre Wangen waren tief eingesunken, über den hohen Wangenknochen spannte sich fiebrig gerötete Haut. Ihre Augenlider wirkten sehr groß über den eingesunkenen Augen, die Lippen waren aufgesprungen, bluteten leicht und hatten eine seltsame bräunliche Farbe. Und ihre Haut, im Gesicht, am faltigen Hals, an den abgemagerten Armen war übersät mit taubeneigroßen dunklen Flecken, jenem häßlichen, giftigen Ausschlag, der nach wenigen Tagen des Fiebers und der Übelkeit ausbrach und dem Kranken mit unbarmherziger Deutlichkeit zeigte, woran er litt.
»Ich habe immer gewußt, daß ich eines Tages in diesem verdammten Dreckloch sterben würde«, sagte Lettice mühsam, »oh, und ich habe alles getan, um es zu verhindern! Ich habe mich mit Wacholder eingeräuchert und Ingwer gekaut, bis mir schlecht davon wurde, ich habe mir die Beine aufgeschnitten, um die bösen Keime aus meinem Blut hinauszuspülen. Ich habe zu Gott und Teufel gebetet, aber es sollte so kommen!« Sie hustete und lag eine Weile ermattet mit geschlossenen Augen da.
Dann sah sie Mary an, die unbeweglich stehengeblieben war. »Du bist erwachsen geworden«, sagte sie, »und hübsch siehst du aus. Wie ist es dir in London ergangen?«
»Gut. Ich bin glücklich dort gewesen.«
»Das glaube ich. Es muß so schön sein dort. Besser als hier jedenfalls. Und jetzt ist auch noch das halbe Dorf tot.«
»Kann ich irgend etwas für dich tun?«
»Ich hätte gern etwas zu trinken. Ambrose und Edward, die Feiglinge, trauen sich nämlich nicht zu mir, und den halben Tag liege ich ohne Wasser hier.«
»Edward liebt dich aber doch.«
»Er ist feige und dumm. Wie sein Vater.«
»Aber gerade Edward hast du immer...«
»Geliebt? Er ist mein einziger Sohn, das ist alles. Über seinen Verstand war ich mir immer im klaren. Du weißt, ich mache mir nie etwas vor.«
»Ja, ich weiß. Ich hole dir jetzt etwas zu trinken.« Mary ergriff den Becher, der neben dem Bett stand und lief damit hinunter auf den Hof, wo sie aus dem Brunnen frisches, eiskaltes Wasser schöpfte. Als sie damit wieder hinaufkam und es Lettice reichte, fiel ihr etwas ein.
»Wo ist Bess?« fragte sie. »Ich habe sie nicht gesehen. Arbeitet sie noch in Fernhill?«
Lettice richtete sich halb auf, trank ein paar Schlucke Wasser und fiel dann kraftlos in ihre Kissen zurück.
»Ach so, du weißt es ja noch nicht«, erwiderte sie, »Bess hat geheiratet. Schon vor zwei Jahren.«
»Wirklich? Wen?«
»Den Metzger. Seine Frau ist im Kindbett gestorben und da fing er an, Bess den Hof zu machen. Diese Person, von der ich mal dachte, sie wäre gescheit, glaubte, sie würde keinen anderen mehr finden
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