Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Bäume schwanken ließ. Mary fröstelte. Mit einer langsamen Bewegung
wandte sie sich zum Gehen und blieb erschreckt stehen, als sie die Pforte des Friedhofes quietschen hörte. Eine dunkle Gestalt kam auf sie zu. Es war Frederic.
»Mary«, sagte er vorsichtig, »ich hoffe, ich habe dich nicht erschreckt. «
»Nein, nein. Ich wollte gerade gehen.«
»Ich habe von drinnen gesehen, wie du hier Stunde um Stunde gestanden hast. Wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Ich dachte, es ist vielleicht gut, wenn ich dich nach Hause begleite.«
Mary lächelte schwach. »Es geht mir schon besser. Mich hat ihr Tod«, sie wies auf das Grab, »mich hat ihr Tod sehr mitgenommen. Von allen aus meiner Familie...« Sie brach ab und fügte etwas hilflos hinzu: »Es war einfach zu früh.«
»Ich weiß. Ich empfinde ja genauso. Diese schreckliche Seuche hat das halbe Dorf ausgerottet, und in vielen Dörfern ringsum tobt sie noch immer. Als ob die Zeit nicht ohnehin schwer genug wäre.«
Sie blickte zu ihm auf, ohne seinen Worten wirklich zu folgen. Wovon sprach er? Von der schweren Zeit, von der Seuche – ach, es kam ihr so unwichtig vor! Sie dachte, daß es anderes geben müßte, was sie einander heute hätten sagen können, und begriff gleichzeitig, daß vielleicht heute der Tag gekommen war, an dem sie von manchen alten Träumen Abschied nehmen mußte. Sie hatten beide wichtige Jahre hinter sich, und sie hatten sie getrennt verbracht. Frederic war ihr fremd, aber sie überlegte, daß er das wohl genauso ihr gegenüber empfand. Sie dachte an Cavendor, an Lady Winter, jenen furchtbaren kalten Tag in den verschneiten Wäldern, an die Todesnacht des Lords und an Nicolas, das Sherwood Inn, ihre Umarmungen, die ihr plötzlich in der Erinnerung eine sanfte Röte in die Wangen trieben.
Frederic fand sie tatsächlich verändert. Er betrachtete ihren schmalen Mund, die feine, gerade Nase, die hohe Stirn. Sie sah so zart aus, dabei weniger weich als früher. Der Blick aus ihren großen, grauen Augen war klar und forschend, wissend auf eine Art, die ihn verwirrte. Wo, auf dem Weg, den sie seit ihrer Trennung gegangen war, hatte sie ihre gläubige Kindlichkeit verloren? Es überraschte ihn zu merken, wie eifersüchtig er auf die Erkenntnis reagierte,
daß es Ereignisse in ihrem Leben gab, von denen er nichts wußte. Gleichzeitig lag eine Lethargie auf ihm, die ihn stumm machte. Es wunderte ihn, daß es Mary, die gerade ihre Mutter beerdigt hatte, nicht ebenso ging. Sie hatte geweint, nun wischte sie die Tränen fort und straffte die mageren Schultern.
Sie ist so tapfer, dachte er erstaunt, sie nimmt das Leben hin, biegt sich unter ihm bis fast zur Erde, aber zerbricht nie und steht immer wieder auf.
»Ach, Mary«, sagte er müde, »warum bist du nach London gegangen? Mein Vater erzählte es mir, als ich einmal in den Ferien hierherkam. Ich war so enttäuscht, dich nicht zu treffen!«
»Ich konnte es nicht mehr aushalten. Nachdem du fort warst... ach, es ist vorbei. Laß uns nicht von der Vergangenheit sprechen, es gibt so vieles, was ich vergessen möchte!« Sie schaute ihn an, in ihren Augen erwachte ein altvertrautes Leuchten. »Solange ich in London war, gab es keinen Tag, an dem ich nicht an Marmalon gedacht hätte und an die Zeit, in der wir dort lebten!«
Frederic lächelte, aber er wirkte angestrengt. »Du hast gar keine Angst vor der Zukunft, Mary?« fragte er. »Siehst du nicht, daß das ganze Land in Aufruhr ist und daß vielleicht Dinge geschehen, die unser ganzes Leben umstürzen? Mary, dieser Streit mit der Kirche und...«
»Was kümmert uns denn das?« unterbrach Mary ihn verwirrt. Sie sah Frederic voller Verwunderung an. »Was interessiert uns die Kirche, der König, der Papst in Rom? Das ist doch alles so weit weg! Wir werden in Marmalon leben und uns um niemanden in der Welt kümmern!«
»Bist du so sicher, daß das geht? Ich glaube, niemand kann sich aus der Zeit, in die er gestellt ist, fortstehlen. Von einem Tag zum anderen müssen wir uns vielleicht entscheiden, auf welcher Seite wir stehen.«
»Wovon sprichst du denn bloß? Was heißt das, wir müssen uns auf eine Seite stellen? Wir haben doch keinen Krieg!«
»Es wird zu einem Krieg zwischen dem König und der katholischen Kirche von England kommen. Das ist überhaupt nicht aufzuhalten. Jeder kann es jetzt schon sehen.«
»Aber ich will mich auf keine Seite stellen. Weder den König noch die Kirche kann ich besonders gut leiden. Ich sehe nicht ein, daß sie in
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