Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Sie konnte keine Askew leiden, ganz gleich, wie vornehm sie sich gab.
»Mr. Belville«, verkündete sie mürrisch, »fragt, ob er hereinkommen darf.«
»Belville«, der Priester wirkte ein wenig erschrocken, »natürlich, er soll hereinkommen. Ich wußte nicht, daß ich Besuch bekomme«, wandte er sich entschuldigend an Mary. Die sah ihn fassungslos an.
»Wer?« fragte sie.
Der Priester lächelte. »Ach ja, Sie kennen ihn. Frederic Belville aus Marmalon.«
Mary kramte zitternd in den Taschen ihres Kleides nach einem Taschentuch, um ihre Tränen zu trocknen. Sie blickte auf, gerade als die Haushälterin erneut das Zimmer betrat, gefolgt von Frederic, der Mary gar nicht wahrnahm, sondern sich sogleich an den Priester wandte.
»Ich habe Nachrichten aus Canterbury«, sagte er, »es heißt, daß...«
»Mr. Belville, ich habe einen Gast«, unterbrach Pater Joshua hastig, »eine junge Dame, die Sie kennen. Miss Mary Askew!«
Frederic drehte sich zu Mary um und stand wie erstarrt. »Mary«, sagte er ungläubig.
Mary erhob sich unsicher. »Frederic! Ich hatte nicht gedacht, daß du hier bist.«
»Mein Vater ist sehr krank. Deshalb bin ich gekommen.« »Wir haben gerade Mrs. Askew beerdigt«, warf der Priester ein, »auch die Seuche. Es ist zum Verzweifeln.«
»Oh, das tut mir leid«, meinte Frederic, »bist du deshalb in Shadow’s Eyes, Mary?«
»Ja, schon seit zwei Wochen. Und seit wann bist du hier?«
»Seit vorgestern erst. Ich erhielt vor wenigen Tagen die Nachricht, daß Vater krank ist.«
Sie schwiegen beide. Es lag eine Fremdheit zwischen ihnen, die sie früher nicht gekannt hatten. Wir haben uns viel zu lange nicht gesehen, dachte Mary, wie erwachsen er geworden ist!
Frederic war jetzt achtzehn Jahre alt, aber sein schmales Gesicht wirkte, wie auch früher schon, um so vieles älter und reifer, daß jeder ihn für weit über zwanzig gehalten hätte. Er war sehr groß geworden und noch immer schlank, hatte feine Hände, aber kräftige Arme. Seine dunklen Haare waren kurzgeschnitten, die braunen Augen aber hatten ihren alten wachen, zugleich unergründlichen Ausdruck. Seine Kleidung war abgetragen, er sah sehr müde aus. Unwillkürlich und darüber fast erschrocken, verglich Mary ihn mit Nicolas de Maurois. Sie ähnelten einander durchaus, beide normannischer Abstammung und sehr dunkel, aber Frederic wirkte
zarter, und ihm fehlte auch Nicolas’ Ausstrahlung von Kühnheit und Leichtsinn. Er sah blaß aus, übernächtigt und sorgenvoll. Der nahende Tod seines Vaters mußte ihn sehr bedrücken.
Mary wischte sich noch einmal über die Augen. Es war ihr peinlich, mit verweintem Gesicht vor ihm zu stehen.
»Ich möchte noch einmal hinaus zum Grab«, sagte sie, »und du bist sicher gekommen, etwas Wichtiges zu besprechen. Ich möchte nicht stören.«
Keiner der beiden Männer widersprach. Eine lähmende Stille lag über dem Raum. Mary betrachtete die beiden, und in aufwallendem Zorn dachte sie: Was ist denn los mit euch? Warum seid ihr so kraftlos? Was ist denn? Ich habe gerade meine Mutter verloren, und wenn ich mich nicht zusammennähme, ich würde jetzt wild weinen, aber ich wäre doch nicht so... so reglos!
Sie band sorgfältig ihr Kopftuch um. Frederics Augen ruhten auf ihr. Sie hatte den Eindruck, daß die unerwartete Begegnung mit ihr ihn überforderte, aber sie selbst fühlte sich auch verunsichert. Jahrelang hatte sie es sich ausgemalt, wie es sein mußte, ihn zu treffen; nun standen sie einander gegenüber, und nichts war so, wie sie gedacht hatte.
Der Regen, dachte sie, das Fleckfieber, Mutters Grab dort draußen. Ach, aber Frederic, ich hätte mir gewünscht, daß du mich in die Arme nimmst und mir sagst, daß ich all die Jahre vergessen kann, die seit unserer Zeit vergangen sind... seit unserem Weidenbaum und unseren warmen Sommern. Sie begriff, daß sie gehen mußte, wenn sie nicht erneut in Tränen ausbrechen wollte.
»Wir sehen uns noch, Frederic«, sagte sie, »auf Wiedersehen, Pater. « Gleich darauf stand sie wieder im Regen. Langsam ging sie zum Friedhof hinüber, trat durch die schmale Pforte und ging zu dem Grab. Sie blieb stehen und sah auf den blumenlosen Hügel, um den herum das Gras noch lehmig und verschmiert von der ausgeschaufelten Erde war. Sie achtete nicht darauf, daß der Regen heftiger wurde, daß sie bereits völlig durchweicht war, daß Kleid und Haare naß an ihr klebten. Es wurde dunkel, ein kalter Wind kam auf, der die schweren Wolken über den Himmel jagte, die
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