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Die Sternenkrone

Die Sternenkrone

Titel: Die Sternenkrone Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Jr. Tiptree
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sah, daß das Fenster hell wurde. Er spürte eine unerklärliche vorübergehende Erleichterung, die der Tagesanbruch anscheinend mit sich brachte.
    Tage und Nächte, er wußte nicht wie viele, vergingen so. Die Infusionsvorrichtung wurde erneut hereingefahren, und er wurde wieder angeschlossen. Er war zu schwach, um sich zu wehren.
    Schließlich kam der Nachmittag, an dem er feststellte, daß das entsetzliche innere Jucken von echten Schmerzen abgelöst worden war, was entschieden besser zu ertragen war. Als das nächstemal die Medikamente kamen, war er in der Lage, sie unten zu behalten und ein Glas Wasser zu trinken, das ebenfalls drin blieb. Doch seine Stimmung hatte sich geändert. Statt Zorn und Raserei hatten jetzt eine entsetzliche Leere und Verzweiflung von ihm Besitz ergriffen. Jeder Gedankenfaden endete in Schrecken und Tod. Sein Körper mochte vielleicht zum Teil entgiftet sein, dachte er, sein Geist war es keineswegs. Wenn das die Wirklichkeit war, dann brauchte er dringend eine Zauberpille, die ihn davor verschonte. Bilder der Tabletten formten sich vor seinem inneren Auge; sein Verlangen danach war so groß, daß er Halluzinationen hatte, in denen sie irgendwo in seinem Zimmer waren – bestimmt in seinem Kleidersack. Dreimal krabbelte er aus dem Bett und durchsuchte ihn und fand – natürlich – nichts. Er weinte. Hinter seinen Tränen keimte ein eiserner Entschluß: Irgendwie würde er an das Zeug herankommen, er würde zurückkehren unter eine Herrschaft, die das Leben erträglich machte, ja sogar angenehm. Die Tabletten gab es an der Front überall, sie wurden großzügig verteilt. Dorthin gehörte er, nicht nach Hause. Was bedeutete die Heimat, verglichen mit dieser Erlösung?
    In dieser Nacht sank er in wirklich tiefen Schlaf, und damit erschien wieder ein wildes Durcheinander von neuen Alpträumen. Er schoß einem kleinen Mestizenjungen mitten ins Gesicht und sah zu, wie der Kopf des Jungen zerbarst. Sein Zug wurde mitten in der Nacht von einem Sturm der Gués auf das Munitionsdepot aufgeschreckt. Und wieder war da das stille Innere der Hütte, in der er neben der verwundeten Frau stand. Er sah ihre Verwundung jetzt deutlich, der ganze Bauch war aufgerissen, und Haut und Fettgewebe waren über der leeren Höhle zurückgeschlagen wie eine dicke Obstschale. Sie lag leicht gekrümmt da. Das Werk eines Messers mußte das sein. Und dann, unausweichlich, nahm das verschwommene Bündel vor seinen Augen klarere Gestalt an und wurde – o nein! –ein blutiges ungeborenes Baby, aufgespießt auf der langen Klinge einer Machete. Der untere Teil des Messers war deutlich zu sehen, eine Hand umfaßte den Griff. Wessen Hand? Nicht seine – o doch! – seine Hand; er spürte, wie das Gleichgewicht ins Wanken kam, als sich seine grauenvolle Last bewegte, mit den Beinen strampelte. Ein verzweifelter, durchdringender Schrei entrang sich ihm.
    Mit äußerster Willenskraft zwang er sich zum Aufwachen und lag keuchend da, während die Fensterscheibe blasser wurde. Und im aufsteigenden Tageslicht wußte er, daß das kein Alptraum war, das war Erinnerung. Er hatte so etwas getan. Er hatte die in den Wehen liegende Frau aufgeschlitzt und das Baby mit dem Messer aufgespießt. Was dann geschah, wußte er nicht – die Tat als solche reichte ihm. Unter dem Einfluß der Kampfzonen-Pillen war er zum wilden Tier geworden, das überall den Feind witterte, sogar im ungeborenen Kind. Er hatte das getan. Und Gott mochte wissen, was noch alles. Die Tiefschlaf-Pillen hatten ihn davon abgehalten überzuschnappen. Mein Gott, wie sehr hätte er jetzt eine gebraucht!
    Als der Tag hereinbrach, kehrten seine geistigen Fähigkeiten bis zu einem gewissen Grad zurück. Zum erstenmal seit Tagen konnte er wieder denken. Erdachte darüber nach, wie weit es im Leben mit einem Menschen kommen konnte, nachdem er sich an diese Tat erinnert hatte. Unmöglich. In seiner Seele war ein einziges riesiges Entsetzen. Er konnte nicht verhindern, daß er die Schreie hörte, weitere Einzelheiten sah und den Geruch der Eingeweide wahrnahm. Nein! Er wollte dem nur noch ein Ende machen, wollte sterben.
    Sterben – dieses Grauen mit sich nehmen, für immer tilgen. Ja. Jede Stunde, die er am Leben blieb, würde sein Geist von diesen Bildern gequält, von tiefster Scham und krankmachender Reue. Von der Angst, an was er sich noch erinnern würde. So konnte er nicht weitermachen. Nach Hause gehen und diese lebende Erinnerung in sich tragen wie ein

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