Die stillen Wasser des Todes - Roman
der von Kieran bezeichneten Stelle am Ufer einen partiellen Fußabdruck gefunden hatte, dazu Textilfasern an einem Zweig sowie Anzeichen eines Kampfes in unmittelbarer Nähe des Ufers. Die Suche nach weiteren Spuren dauerte noch an.
Wie es aussah, hatte Kieran Connolly also recht behalten, was die Stelle betraf, wo Rebecca Meredith ermordet worden war, und Childs wäre überglücklich, wenn sie nachweisen könnten, dass der Fußabdruck oder die Fasern von Atterton stammten.
Doch wenngleich Kincaid sehr wohl bewusst war, dass sein Auftrag lautete, Rebecca Meredith’ Mörder zu fassen, hatte er das Gefühl, in Attertons Richtung gedrängt zu werden, und das aus Gründen, die mit dem Streben nach Gerechtigkeit nichts zu tun hatten.
Und das gefiel ihm ganz und gar nicht.
Vielleicht war er ja nur verbohrt, dachte er, wie Kinder, wenn sie unbedingt ihren Kopf durchsetzen wollten und sich weigerten, Vernunft anzunehmen.
Oder hatte er etwa zu viel Verständnis für einen Mann, der um die Frau trauerte, die er geliebt hatte, ganz gleich, wie kompliziert die Beziehung gewesen sein mochte? Oft genug hatte er Gemma vorgeworfen, dass sie allzu schnell bereit sei, sich in die Lage eines Verdächtigen zu versetzen – jetzt beging er vielleicht den gleichen Fehler.
Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen, während er die Passanten beobachtete, die alle den Sonnenschein zu genießen und sich aufs Mittagessen zu freuen schienen. Die rote Backsteinfassade des Hotels bildete einen lebhaften Kontrast zu den weißen Tür- und Fensterrahmen, und an der Fassade eines Cottage auf der anderen Straßenseite blühten späte pinkfarbene Rosen in einer Fülle, die wie ein letztes Aufbegehren gegen den nahenden Winter wirkte. Es schien ein Tag für letzte Chancen zu sein.
Er wollte gerade sein Handy aus der Tasche ziehen, um Cullen noch einmal anzurufen, als er ihn am Ende der Straße um die Ecke biegen sah.
Der Sergeant machte einen beschwingten Eindruck, als hätte ein wenig vom Glanz des Leander auf ihn abgefärbt.
»Was erreicht?«, fragte Kincaid, als Cullen vor ihm stand.
»Also, mit einem fehlenden oder gestohlenen Skiff kann ich leider nicht dienen«, antwortete Doug. »Milo Jachym sagt, sie würden immer ganz besonders darauf achten, dass abends alle Boote wieder da sind.«
»Nun ja, das konnte man ja auch nicht unbedingt erwarten. Ich habe DC Bell noch zu den beiden anderen Clubs geschickt, nur für alle Fälle. Sonst noch etwas?«
»Ich glaube nicht, dass Milo Jachym als Täter in Frage kommt. Was ich allerdings glaube, ist, dass er Freddie Atterton schützen würde, außer wenn er hundertprozentig von seiner Schuld überzeugt wäre. Aber eine Sache fand ich merkwürdig«, fügte Doug hinzu. Er nahm seine Nickelbrille ab und putzte die Gläser mit seiner Krawatte. »Er hat ganz bereitwillig zugegeben, dass Atterton derjenige war, der durch seine Untreue die Ehe zerstört hat. Offenbar hatte er eine ganze Reihe von Affären. Rebecca Meredith ist früher unter Milo Jachym gerudert, und sie waren befreundet. Da sollte man doch meinen, dass er sich über Attertons Verhalten ihr gegenüber viel stärker aufregen würde.«
»Ein Loyalitätskonflikt? Oder einfach Solidarität unter Machos?«, spekulierte Kincaid. »Nach dem Motto ›Wir Männer sind nun mal so‹.«
»Jedenfalls scheint Atterton selbst wegen seiner Eskapaden ein ziemlich schlechtes Gewissen gehabt zu haben«, meinte Doug, während er die Brille wieder aufsetzte. »Mal sehen, was er so zu seiner Verteidigung vorzubringen hat.«
Die Malthouse-Apartments waren durch ein eindrucksvolles Eisengitter von der Straße abgeschottet, doch an der Seite war eine dezente Tafel mit Klingeln für die einzelnen Wohnungen angebracht. Kincaid warf noch einmal einen Blick auf den Zettel, den er in seine Jackentasche gesteckt hatte, und drückte dann den Knopf neben Attertons Wohnungsnummer.
Kincaids erster Gedanke war, dass Freddie Atterton fürchterlich aussah.
Sein zweiter Gedanke war, dass so ziemlich jeder sich in Freddie Attertons Wohnung fürchterlich gefühlt hätte. Alles war schwarz und grau und minimalistisch, und nicht einmal die gute Beleuchtung und die architektonischen Details, die bei der Renovierung erhalten geblieben waren, konnten die bedrückende Atmosphäre aufhellen.
Und dazu kam noch das Chaos. Im ganzen Wohnzimmer lagen zerknitterte Klamotten herum. Auf dem Couchtisch stand eine leere Whiskyflasche, daneben eine als Aschenbecher zweckentfremdete
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