Die stillen Wasser des Todes - Roman
sich wohl verspätet, und er musste schon wieder oberhalb der Henley Bridge angelangt sein, als sie aufgebrochen war.
O Gott – wenn er nur ein paar Minuten später losgelaufen wäre oder unterwegs ein bisschen getrödelt hätte, hätte er sie dann retten können? Und der Angler – was, wenn dieser Angler ihr aufgelauert hatte? Sie wäre direkt an ihm vorbeigekommen, nachdem sie Temple Island umrundet hatte und zum Leander zurückgerudert war, und sie würde sich dicht am Buckinghamshire-Ufer gehalten haben, wo der Wind und die Strömung das Flussaufwärtsrudern erleichterten.
War sie tatsächlich dort gekentert – oder zum Kentern gebracht oder aus dem Boot gezogen worden –, dann war das Ende von Benham’s Wood, wo sie das Filippi gefunden hatten, die erste Stelle, wo das flussabwärts treibende Boot sich am Ufer verhakt haben könnte. Und Becca – Becca wäre von der Strömung mitgerissen worden, bis ihre Leiche in dem Strudel unterhalb des Wehrs hängen geblieben war.
Kieran stand auf, entschlossen, die Stelle näher zu untersuchen, wo er den Mann gesehen hatte, sobald es richtig hell war. Aber da drehte sich plötzlich alles um ihn und kippte zur Seite, und als er wieder zu sich kam, lag er im weichen Gras am Flussufer.
Stöhnend murmelte er: »Diese gottverdammten Schwindelanfälle.« Was war denn das für ein Leben, wo es einen jederzeit ohne Vorwarnung umhauen konnte wie einen Baum, den man fällt?
Lange Zeit lag er da und sah den wirbelnden, schwankenden Himmel heller werden. Endlich glitt er in einen leichten Schlaf hinüber. Finn weckte ihn; winselnd stupste er ihn mit der Schnauze an.
»Tut mir leid, Junge«, krächzte Kieran mit trockener Kehle. »Bin echt zu nichts zu gebrauchen, was?«
Prüfend bewegte er seinen Kopf ein paar Millimeter. So weit, so gut. Der kurze Schlaf hatte wie gewöhnlich das Schwindelgefühl gelindert. Nach einer Weile war er in der Lage, aufzustehen und in den Schuppen zu wanken, und er schaffte es noch, Finn etwas Futter in seinen Napf zu schütten, ehe er sich auf dem Feldbett ausstreckte. Er schlief wieder ein, fester diesmal, und als er am späten Nachmittag erwachte, fühlte er sich sicher genug auf den Beinen, um sich nach Henley hineinwagen zu können.
Von der Buckinghamshire-Seite war es nicht ganz einfach, auf den Uferpfad zu gelangen. Er hätte mit dem Land Rover bis zu der Stelle fahren können, wo der Fußweg von der Marlow Road abzweigte, aber bei der Häufigkeit und Heftigkeit seiner Schwindelanfälle wagte er es nicht, sich ans Steuer zu setzen. Nachdem er die wenigen Meter bis zum Festland gerudert war, machte er sich daher zu Fuß auf den Weg, wobei er sich gelegentlich auf Finns starkem Rücken abstützte. Die ganze Zeit hoffte und fürchtete er zugleich, Tavie zu begegnen.
Einige der Leute, die ihm entgegenkamen, musterten ihn mit den angewiderten Blicken, die normalerweise Betrunkenen vorbehalten waren, doch es war ihm egal. Er wollte nur wissen, ob er sich richtig erinnerte oder ob der Mann zwischen den Bäumen ein Hirngespinst gewesen war.
Die Sonne, teilweise verdeckt von den Wolken, die von Westen aufzogen, stand schon tief, als er die Abzweigung zum Phyllis Court passierte und auf den Fußweg abbog. Finn beobachtete aufmerksam die Wiese beim Trainingsgelände des FC Henley – von früheren Spaziergängen wusste er, dass es dort Kaninchen gab –, doch er blieb dicht bei Fuß.
Der Weg schien kein Ende zu nehmen, und Kieran war erleichtert, als er endlich am Ende des letzten Felds anlangte. Aber weiter waren er und Finn noch nie gekommen, und als ihm bewusst wurde, was vor ihm lag, verließ ihn fast der Mut. Hier schlängelte sich ein Nebenarm der Themse in die Ausläufer eines sumpfigen Wäldchens hinein, und nur ein schmaler Holzsteg führte über das Wasser. Weit und breit konnte Kieran keinen anderen Weg entdecken, also hielt er sich am Geländer fest, während er hinüberging, und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Genauso verfuhr er beim nächsten, noch schmaleren Steg.
Je weiter er vordrang, zwischen herabhängenden Zweigen hindurch, die sich in seinen Haaren verfingen, desto schwerer war der Weg zu erkennen; er wand sich tiefer und tiefer in den Wald, bis er sich ganz zu verlieren drohte.
Und dann folgte Kieran noch einer letzten Biegung, und er war dort. Er erkannte die Stelle sofort wieder.
Eine kleine, kreisförmige Lichtung lag zwischen dem Pfad und dem Fluss, gesäumt von Bäumen und dichtem Gestrüpp. An
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