Die Stimme des Blutes
Kassia, komm, Liebling! Verabschiede dich von unserem gastfreundlichen Wirt! Danach kannst du mich auf dem ganzen Weg bis Wolffeton mit Vorwürfen quälen.«
Daria sah zu, wie Graelam und Kassia mit ihren Kriegern aus der Burg ritten. Als Lord Graelam sich plötzlich im Sattel umdrehte und einen langen Blick zurück auf die Burg warf, war sie nicht besonders überrascht. Es hatte den Eindruck, als halte er nach ihr Ausschau. Der Mann imponierte ihr. Ein so furchterregender Krieger und dabei von so freundlichem Wesen!
Auf einmal fühlte sie sich unsicher auf den Beinen und mußte sich setzen. Diese verdammte Schwäche! Sie wollte und wollte nicht weichen. Kassia hatte zum Abschied ihre Hände ergriffen, sie auf die Wange geküßt und gesagt: »Ihr habt meinem Mann das Leben gerettet. Dafür stehe ich mein Leben lang in Eurer Schuld. Ich pflege meine Schulden immer zurückzuzahlen. Ihr dürft nicht aufgeben, Daria.«
Chantry Hall war voller Leben. Im großen Saal herrschte lebhaftes Treiben. Doch selbst hier fühlte Daria sich verlassen. Sie ertrug die verstohlenen Mitleidsblicke nicht. Daher hielt sie sich die meiste Zeit über im Schlafzimmer auf. Jetzt zog sie sich den neuen Überrock über ihr Kleid. Er war aus hellblauer Wolle und fühlte sich sehr weich an. Sie würde ihn ihrem Mann vorführen. Vielleicht entlockte ihm das ein Lächeln.
Er sprach gerade im Innenhof mit Salin. Es sah aus, als wollten die beiden ausreiten. Als sie auf der untersten Treppenstufe zum großen Saal stehenblieb, schaute Roland auf. Er sah sie unbeweglich an und sagte kein Wort. Nur die Hand hob er zu einem knappen Gruß. Dann machte er kehrt und schritt mit Salin an seiner Seite zu den Stallungen.
Immer, wenn er zufällig mit ihr zusammentraf, gab er sich freundlich. Aber das war auch alles.
Viel mehr erwartete sie ja auch nicht von ihm. Sie hatte ihn in den letzten Tagen kaum zu Gesicht bekommen, denn er arbeitete mit seinen Männern an der Ausbesserung der östlichen Burgmauer, unter der Graelam verschüttet worden war. Das Werk war fast vollendet.
Im Laufe der Zeit verschwand ihre körperliche Schwäche. Daria kümmerte sich nun intensiv um das Innere der Burg. Sie ließ alles säubern, die Tische abschrubben und die Sessel des Lords und der
Lady polieren, bis sie glänzten. So wurde Rolands Burg allmählich ein angenehmer Aufenthaltsort. Die Binsen auf den Fußböden dufteten, die Aborte waren gekalkt worden, und nur wenn ein starker Ostwind blies, stiegen einem unangenehme Gerüche in die Nase.
Jetzt mußte sie noch dafür sorgen, daß die Nebengebäude neu angestrichen und einige neue Möbel und Ausstattungsgegenstände für den großen Saal und verschiedene Zimmer gekauft wurden. Manches aus ihrer Mitgift hatte die Burg schon wohnlicher gemacht: die beiden glänzend polierten Waschbecken, die dicken, weichen Sessellehnen und die beiden von ihrer Großmutter gewebten Gobelins, die jetzt an der hinteren Wand hingen. Sie gaben dem großen Saal Farbe und boten Schutz vor Feuchtigkeit. Doch für weitere Anschaffungen mußte sie auf Rolands Genehmigung warten.
Den Nachmittag verbrachte Daria mit ihren Kräutern, nähte dann gemeinsam mit ihrer Mutter und gab den Bedienerinnen durch Gwyn Anweisungen, dem Mädchen, mit dem Roland geschlafen hatte und das so nett und freundlich war, daß Daria jede Eifersucht vergaß.
Sie trug wieder ihren neuen Überrock mit den weiten Ärmeln, den sie über ein altes, von ihrer Mutter geändertes Kleid gezogen hatte. Sie war zu dünn, aber der Anblick von Speisen verursachte ihr immer noch leichte Übelkeit. Ihre vom Waschen schimmernden Haare hatte sie gebürstet und trug sie offen. Sie reichten ihr fast bis zur Taille.
Roland kam ins Schlafzimmer und blieb abrupt stehen. Unter seinem forschenden Blick verhielt sie sich ganz still.
»Wie schön du aussiehst!«
»Danke.«
»Ich muß dir Schmuck besorgen, Daria. Irgend etwas Schönes. Vielleicht Smaragde, passend zu deiner Augenfarbe.«
»Ich würde lieber noch einige Dinge für deine Burg kaufen, Roland.«
»Ach ja?«
»Vielleicht einige Teppiche, Kissen für deinen Sessel im Zimmer und einen Gobelin.«
Roland versank minutenlang in Nachdenken. Dann sagte er unerwartet: »Weißt du, daß Philippa Verwalterin auf St. Erth ist?«
»Ja, du hast es mir schon einmal gesagt.«
»Könntest du eine Aufstellung der Haushaltsgüter machen, die uns noch fehlen, und dann feststellen, wieviel Geld uns aus deiner Mitgift und aus meiner
Weitere Kostenlose Bücher