Die Stimme des Blutes
kein Priester ist. Er sieht viel zu gut aus und ist zu schlank für einen Priester! Ja, diese beiden ...«
Außer sich vor Zorn fuhr Daria herum und schrie Ena an: »Halt dein dummes Maul, du elendes altes Weib! Ich will nichts mehr hören von deinem dreckigen Gerede!«
Ena war so erschrocken, daß sie keinen Ton herausbrachte.
»Verschwinde jetzt! Ich will dein blödes Hexengesicht bis morgen früh nicht mehr sehen. Geh!«
Die Alte schlurfte hinaus. Daria war wieder allein. Sie starrte die geschlossene Tür an. Sie fühlte kaum ein Bedauern über ihren Ausbruch, denn in den Monaten ihrer Gefangenschaft war Ena immer unzuverlässiger geworden. Der Alten würde schon nichts geschehen, wenn ihr, Daria, die Flucht gelang. Der Graf hatte anderes zu tun, als sie zu töten.
Sie setzte sich aufs Bett. Was war zu tun? Warten, bis Roland kam? Sie wußte es einfach nicht. Wahrscheinlich blieb ihr gar nichts anderes übrig, als hierzubleiben, bis er wieder auftauchte. Plötzlich sprang sie auf. Vielleicht könnte sie die Flucht auch auf eigene Faust versuchen. Die Tür war ja nicht abgeschlossen. Vielleicht konnte sie an den Wachtposten vorbeischlüpfen. Vielleicht konnte sie über den Innenhof rennen, ohne daß jemand sie aufhielt. Vielleicht... nein, das war ja lächerlich.
Wie wollte Roland eigentlich hinausgelangen? Er hatte gesagt: heute nacht. Aber wie? Sie sah keinen Weg, nicht den Hauch einer Chance.
Sie spürte wieder den Hornhautfinger des Grafen in ihrem Schoß und begann zu weinen. Der Schmerz, die Demütigung, die Entehrung - es war zu viel. Sie weinte hemmungslos. Und Roland hatte zugesehen...
Etwas in ihr zerbrach. Ihr war zumute, als stände sie plötzlich neben sich. Sie fühlte sich so ausgestoßen und grau wie die einbrechende Nacht. Besessen von einem dumpfen Trieb, ging sie langsam zu dem schmalen Fenster hinüber, maß es mit den Händen ab, kletterte dann auf einen Schemel und versuchte den Kopf hinauszustecken. Aber das Fenster war selbst für ihren Kopf zu schmal. Als sie es mit Gewalt versuchte, zerschrammte sie sich die Schläfen. Die Hände an die Schläfen gepreßt, stieg sie taumelnd vom Schemel. Entsetzt wurde ihr klar, daß sie vorgehabt hatte, sich aus dem Fenster in den sicheren Tod zu stürzen. Sie zwang sich zu ruhigem Atmen. Sie durfte jetzt nicht den Verstand verlieren. Langsam legte sie sich auf das schmale Bett und schloß die Augen. Sie mußte die Ruhe bewahren. Sie würde warten. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Sie wußte nicht, wie viele Stunden vergangen waren. Waren es überhaupt Stunden? Oder nur Minuten, die sich zäh voranschleppten?
Nur ein Viertelmond stand am Nachthimmel, dessen schwaches Licht keinen Schatten ins Zimmer warf. Es war dunkel und totenstill. Dann hörte sie, wie leise die Tür aufging. Sie vernahm Schritte und das ruhige Atmen eines Mannes.
»Ich kann nicht mehr länger auf dich warten«, sagte er und blieb an ihrem Bett stehen. »Ich bin gekommen, um dich zu meiner Frau zu machen. Ich habe lange in der Kapelle gebetet. Gott ist mit meinem Vorhaben einverstanden. Du wirst mir gehorchen und dich mir hingeben.«
4
Sie hatte geahnt, daß er kommen würde. Erstaunlich, daß sie durchaus nicht von Furcht gelähmt war. Sie dachte nur: Immer bildet er sich ein, Gott auf seiner Seite zu haben, ob es um Frömmigkeit oder Wollust geht! Sie lauschte. Nein, er schloß nicht ab. Er mußte aber einen Schlüssel haben, denn in den ersten Wochen hatte er sie immer eingeschlossen.
Diesmal hielt er es wohl nicht für nötig. Sie hörte ihn schwer atmen. Dann stolperte er über den Schemel, fluchte und rief: »Hast du denn keine Kerze? Ich will dich sehen. Wo ist die Kerze?«
Ganz langsam und mit Bedacht rollte sich Daria über die hintere Bettkante und landete auf allen vieren auf dem kalten Steinfußboden. Konnte er sie irgendwie erkennen?
»Daria?« Jetzt tastete er das Bett nach ihr ab. Lautlos kroch sie auf die Tür zu.
Inzwischen hatte er gemerkt, daß sie nicht im Bett lag und brav auf ihn wartete. Laut schrie er ihren Namen, fuhr herum und stolperte wieder über den Schemel. Danach riß er ärgerlich die Tür weit auf. Im trüben Schein der einzigen Wandfackel auf dem Flur sah er sie vor sich schweigend knien.
Der Graf überlegte, ob er sie schlagen sollte, weil sie versucht hatte, vor ihm auszurücken. Lieber nicht, sagte er sich. Sie sollte ihm ja bei dem Geschlechtsakt volle Aufmerksamkeit widmen. Er wollte, daß sie ihn ansah, wenn er in sie
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