Die Stimme des Blutes
nie stolz sein. Bestenfalls würde er ihm mit nichtssagender Freundlichkeit begegnen. Wenn es schlimm kam, mit abweisender Kälte.
Später stieg sie zum Ostwall empor und schaute ins Land. Als sie sich umdrehte, stand Graelam De Moreton, der Herr von Wolffeton, vor ihr. Sein plötzliches Erscheinen erschreckte sie. Er war ein großer Mann und, wie Roland gesagt hatte, ein überaus tüchtiger Krieger. Er wirkte rücksichtslos, beinahe abstoßend auf sie.
Seine ersten Worte waren: »Verzeiht mir, wenn ich Euch erschreckt habe, Daria, aber Ihr müßt Euch in acht nehmen. Ihr tragt ein Kind unterm Herzen, und der Fußpfad hier oben ist schmal.«
War er extra auf die Wälle geklommen, um sie zur Vorsicht zu ermahnen? Sie nickte mit ernster Miene. »Danke, Mylord.«
Graelam blickte hinaus aufs Meer. »Roland bleibt höchstens zwei Wochen weg. Dann holt er Euch ab und bringt Euch zu seiner Burg.«
»Wo liegt diese Burg, Mylord?«
»Nur fünfzehn Meilen nordöstlich von Wolffeton. Es ist ein nette kleine Burg, nicht so weitläufig und beherrschend gelegen wie Wolffeton, aber sie wird dem Geschlecht der de Tournay auf viele Jahre ein Heim bieten. Der Mann, dessen Familie es so lange in Besitz hatte, ist jetzt alt und müde. Er hat keine männlichen Erben. Er war mit Rolands Vater eng befreundet.«
»Ich weiß, sie heißt Thispen-Ladock, und Sir Thomas Ladock ist der Eigentümer.«
»Ja, der Name stammt von den beiden bedeutendsten Familien, die seit der Zeit Williams dort saßen. Das größte Dorf in diesem Gebiet heißt Perranporth. Hat Euch Roland sonst nichts von der Burg und ihrer Lage erzählt?«
Sie schüttelte den Kopf, und Graelam fuhr nach einer nachdenklichen Pause fort: »Da kaum mit der Invasion eines feindlichen Heeres zu rechnen ist, hat die Burg keine größeren Festungsanlagen nötig. Wir leben in einer so friedlichen Zeit, daß man sich als Mann nach Abwechslung sehnt.«
Sie mußte lächeln. Offenbar bedauerte er, daß Frieden herrschte.
»Vielleicht sollte ich den Wohnsitz meiner Familie an die Grenze nach Wales verlegen. Dort herrscht noch echter Kampfgeist.«
»Aber nur so lange, bis es König Edward gelungen ist, den Markgrafen die Flügel zu stutzen. Wir müssen also auch in Zukunft mit der Fortdauer friedlicher Zeiten rechnen.«
»Ungeachtet der Pläne Edwards bin ich anderer Meinung. Engländer und Franzosen lieben nun einmal eine handfeste Auseinandersetzung über alles. Und wenn es keinen Anlaß dafür gibt, erfinden sie einfach einen und schlagen sich dann gegenseitig die Köpfe ein. Und ihr dürft auch die Schotten und die Iren nicht vergessen. Ehe sie mit einem Engländer sprechen, spalten sie ihm lieber den Schädel. Gestattet mir jetzt, Euch von diesem gefährlichen Aussichtspunkt hinunterzubegleiten. Meine Kassia hat mich extra hochgeschickt, um einer Dame Kavaliersdienste zu leisten.«
Meine Kassia. Das hörte sich überaus nett, wenn auch etwas überraschend aus dem Munde eines Mannes an, der mit einem Schwerthieb einen Mann und sein Pferd in der Mitte durchschlagen konnte.
Da geschah Daria etwas höchst Unangenehmes. Sie brach plötzlich in Tränen aus. Vergebens bedeckte sie das Gesicht mit den Händen. Sie schämte sich mehr, als sie ertragen konnte. Doch die Tränen ließen sich nicht aufhalten.
Er legte die Arme um ihre Schultern und zog sie tröstend an sich. »Das macht das Kind, Daria. Deswegen braucht Ihr Euch nicht zu schämen. Ihr werdet sehen, das vergeht wieder. Auch meine süße Kassia hatte damals höchst merkwürdige Anfälle.«
»Nein, das Kind ist es nicht!«
»Nein?«
»Es ist Roland, mein Gatte. Er empfindet nur Verachtung für mich und hat mich allein deshalb geheiratet, weil der König es ihm befohlen hat!«
Graelam wünschte sich brennend, durch einen Zauberstreich stände er jetzt unten im Burghof und seine Frau wäre hier oben an seiner Stelle. Ihm fiel nichts ein, was er ihr sagen konnte. Allmählich wurde ihr Schluchzen ruhiger.
»Verzeiht mir«, hörte er sich sagen. »Bald wird alles besser werden.« Bei allen Heiligen, dachte er, der Verzweiflung nahe, was rede ich denn da für Phrasen? Zum Glück schien sie sich jetzt zu beruhigen.
»Nein, ich bitte um Verzeihung«, sagte sie und wischte sich wie ein Kind mit dem Handrücken die Tränen ab. Aber sie war kein Kind mehr. Sie war eine erwachsene Frau, sie war verheiratet und trug ein Kind im Leib.
»Kommt!« sagte er. »Kassia wird Euch einen Becher Milch geben, dann fühlt Ihr Euch gleich
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