Die Stimme des Blutes
Roland?«
»Ich glaube nicht, daß mir jetzt noch die Rute stehen wird. Wenigstens nicht bei dir.«
Doch er entkleidete sie weiter, bis sie nackt vor ihm lag. In gleichgültigem Ton stellte er fest: »Dein Leib ist so flach, man kann sich kaum vorstellen, daß du ein Kind darin trägst. Vielleicht war der Vater ein Zwerg.«
Sie fuhr hoch, packte die halbgefüllte Wasserkaraffe und schleuderte sie nach ihm. Sie traf ihn vor die Brust, und das Wasser spritzte ihm bis ins Gesicht.
In diesem Augenblick war es ihr völlig egal, ob er sie dafür strafen würde oder nicht. Es war ohnehin alles schiefgegangen. Sie hörte, wie er tief einatmete. Dann geschah eine Zeitlang gar nichts. Schließlich vernahm sie Schritte. Er war auf dem Weg zur Tür, die er aufschloß. Als er die Tür aufmachte, sagte er: »Ich reite morgen weg. Du bleibst hier bei Lord Graelam und Lady Kassia. Sie werden sich um dich kümmern.«
Klopfenden Herzens setze sie sich auf. Er wollte sie verlassen! »Nimm mich bitte mit! Laß mich nicht hier allein zurück! Das ist nicht recht. Du willst doch deine Burg kaufen, nicht wahr? Mir wird auch nicht mehr übel werden, das schwöre ich dir. Und bestimmt brauchst du mich ...«
»Dich brauchen? Ich brauche keine kranke Frau, die mich nur hemmt. Du hast dich ja nicht in der Gewalt. Dauernd erbrichst du dich.«
Daria dröhnte noch immer der Kopf von dem Anprall gegen die Steinwand. Wenigstens hatte er sie nicht angerührt.
Aber er wollte weg. Ohne sie! Würde er überhaupt noch einmal wiederkommen?
Heiß stieg Übelkeit in ihr auf. Sie vergaß die Kopfschmerzen, sprang aus dem Bett und schaffte es gerade noch bis zum Topf.
Als Roland am nächsten Morgen aufbrach, war Daria schon seit Stunden wach. In den Schlafrock gehüllt, beobachtete sie durch einen Fensterspalt, wie er Cantor bestieg, während er sich mit Lord Graelam unterhielt und schließlich seine Männer anwies, durch das geöffnete Fallgitter zu reiten. Im letzten Augenblick drehte er sich noch um und schaute zu ihr hinauf. Sie winkte ihm wild zu. Sie wollte ihm zuschreien, er solle sie mitnehmen. Doch hören würde er sie sowieso nicht.
Lange Zeit blieb sie so stehen. Sie stand immer noch da, als die Menschen zum Arbeitsbeginn in den Innenhof von Wolffeton strömten. Es war genauso wie auf Tyberton oder auf Reymerstone, der Burg ihres Onkels, und doch war es ganz anders. Woran lag es wohl? Anscheinend daran, daß die Menschen laute Gespräche führten und viel dabei lachten. Ja, das war es. Hier taten die Leute ihre Arbeit nicht mit trübseliger Miene, hängenden Schultern und leerem Blick.
Dann sah sie Lady Kassia, ihre Gastgeberin wider Willen, aus dem großen Saal ins Freie treten. Sie sah wie irgendeine Bedienerin aus. Ihr folgte ein älterer Mann. Er trug zwei Tabletts, auf denen sich süß duftende Pasteten mit Honig und Mandeln türmten. Daria lief das Wasser im Munde zusammen. Lady Kassia blieb stehen, überblickte das Getümmel um sie herum und pfiff dann so laut wie ein Krieger. Im nächsten Augenblick waren sie und ihr Begleiter von den Burgleuten umringt, die die Hände nach den warmen Pasteten auf den Tabletts ausstreckten.
Daria wünschte, sie könnte auch so laut pfeifen. Wenn sie sich beim nächstenmal über Roland ärgerte, würden ihm die Ohren klingen. Bei dem Gedanken mußte sie lächeln.
Wenn ihre Gastgeberin sie nur wider Willen bei sich dulden sollte, so war ihr jedenfalls nichts davon anzumerken. Kassia erblickte sie, lächelte und winkte ihr herunterzukommen. Als Daria in den Saal trat, riß sich Kassia gerade das weiße Tuch vom Kopf. Nun wirkte sie wie ein kleiner tanzender Derwisch.
»Kommt zu mir, Daria! Ich habe eine Pastete für Euch zurückbehalten. Ja, setzt Euch her und eßt! Oh, meine Liebe, Ihr seht aber müde aus. Habt Ihr schlecht geschlafen? Euer Gatte ist heute morgen in aller Frühe aufgebrochen. Er fehlt Euch wohl schon. Nachher stelle ich Euch Harry vor. Ihr müßt mir aber versprechen, ihn schöner als jeden anderen Säugling der Christenheit zu finden!«
Am Nachmittag fühlte sich Daria so einsam, daß sie am liebsten geweint hätte. Sie konnte selber nicht erklären, wie sie sich unter den vielen Leuten auf der Burg, die alle nett und freundlich waren, einsam fühlen konnte. Es war aber so. Sie beschäftigte sich einige Zeit mit Harry, der in der Tat ein schönes Baby war. Doch als sie ihn auf den Arm nahm, traten ihr die Tränen in die Augen. Auf ihr Kind - Rolands Kind - würde sein Vater
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