Die Stimme des Feuers
ruhig.
Rolfe faßte sich ein Herz. Hoffentlich nahm die junge Herrin an seinen kühnen Worten keinen Anstoß! »Sie war nur ein Traumgespinst, das der Lord sich ersonnen hatte. Die dummen Lieder der Minnesänger bestärkten ihn darin. Ich möchte bezweifeln, daß sie Eure Fähigkeiten besitzt, Mylady.«
Kassia spielte ihm nichts vor. »Und doch ist sie der Inbegriff seiner Wünsche, Rolfe. Er himmelt sie an. Ja, das hat er mir selber gesagt. Er sprach von ihrem Ehrbegriff, von ihrer Aufrichtigkeit und von ihren erstaunlichen Fähigkeiten im Waffenhandwerk. In seinen Augen besitze ich nichts von alldem, Rolfe. Wenn ich das Bogenschießen erlerne, spricht er mir vielleicht auch die anderen Eigenschaften zu. Auf jeden Fall muß ich etwas unternehmen!«
Es wäre besser, wenn sie sich die oberflächliche Lady Chandra nicht zum Vorbild nähme, dachte er. Laut sagte er: »In den Augen fast aller unserer Männer seid Ihr, Mylady, der Inbegriff der Güte, der Aufrichtigkeit und der Ehre. Nur sehr wenige glauben, Ihr hättet Graelam betrogen.«
»Aber er glaubt es«, sagte sie hart.
Rolfe rutschten die Worte heraus: »Er ist ein Dummkopf. Besonders was Frauen betrifft.«
»Und außerdem ist er mein Mann.«
Rolfe tat einen tiefen Atemzug. Am liebsten hätte er sie gefragt, ob Graelam sie geschlagen habe. Er wünschte, er könnte seinem rücksichtslosen Herrn einmal den Kopf zurechtsetzen.
Plötzlich wandte sich Graelam um. Argwöhnisch funkelten die dunklen Augen unter gesenkten Lidern. Mein Gott, dachte Rolfe verblüfft, er ist eifersüchtig! Auf einen alten Mann wie mich! Nachdenklich kaute er an der Unterlippe. Dann faßte er seinen Entschluß. »Abgemacht, Mylady«, sagte er lächelnd, »ich unterrichte Euch.«
»Graelam darf aber nichts davon erfahren.«
»Nein. Erst wenn Ihr so weit seid, daß Eure Leistungen ihn beeindrucken werden.«
»Danke, Rolfe!« sagte sie mit strahlendem Lächeln, und der Anblick ihres reinen, süßen Gesichts griff ihm ans Herz.
Im Obstgarten wartete Rolfe, bis sie den letzten Pfeil abgeschossen hatte. Dann trat er vor. Unter seinen Stiefeln knirschte das Laub. Er war besorgt, sie könnte sich bei dem langen Stehen am kalten Winternachmittag erkältet haben. Dennoch sagte er streng im Ton des Lehrers: »Ihr müßt den rechten Arm steif halten. Hier, ich zeige es Euch.«
Er zeigte es ihr und unterrichtete sie, bis die Kälte durch seine dicken Kleider zog. »Jetzt ist es genug, Mylady. Meine alten Knochen sehnen sich nach einem warmen Kamin.«
»Und nach heißem Glühwein!« rief Kassia glücklich. »Für dich auch, Evian.«
Evian nahm ihren Bogen und den Lederköcher unter den Arm. Es sollte so aussehen, als ob er damit geübt hätte. Rolfe hatte ihm gesagt, daß Lord Graelam nichts von Kassias Übungsstunden erfahren dürfe. Es sollte eine Überraschung für ihn sein.
Ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen, betrat Kassia den großen Saal. Als sie Graelam erblickte, blieb sie abrupt stehen. Er hatte die Arme vor der Brust zusammengelegt und sah sie prüfend an. Am Abend zuvor war er von einem Besuch auf Crandall zurückgekehrt. Wie kraftvoll, wie herrlich männlich er aussah! Zerzaust hing ihm das dichte, schwarze Haar um den Kopf.
»Wo bist du gewesen?«
Sie senkte den Blick. »Möchtest du Glühwein haben, Mylord?« fragte sie vorsichtig.
»Ich will eine Antwort auf meine Frage haben, Mylady.«
Sie hob das Kinn. »Ich habe einen Spaziergang im Obstgarten gemacht.« Als sie das offensichtliche Mißtrauen in seinem Blick sah, setzte sie eilig hinzu: »Evian hat mich begleitet. Ich habe überlegt, ob ich im Frühjahr ... einige Birnbäume pflanzen soll.«
Warum lügt sie mich wieder an? dachte Graelam. Ausgerechnet Birnbäume! Laut sagte er: »Komm, wärme dich auf! Deine Nase ist von der Kälte ganz rot geworden.«
Dieser Aufforderung folgte sie gem. Vorher aber bestellte sie noch Glühwein. Dann erkundigte sie sich nach Sir Walter. »Wie macht er sich auf Crandall?«
»Er benimmt sich den Bauern gegenüber etwas anmaßend. Aber ich bin sicher, daß er zurechtkommt.«
Kassia hatte gehofft, daß Graelam Sir Walters wahren Charakter durchschauen würde. Offenbar war das nicht der Fall. Sie fragte: »Hat dir Blount die Botschaft des Herzogs von Cornwall zu lesen gegeben?«
»Ja. Sie gibt mir Anlaß zur Besorgnis. Ständig dieses Gerede darüber, daß er alt wird! Man sollte doch annehmen, daß der Herzog jetzt, nachdem Edward sicher auf dem Thron sitzt, sich in Ruhe seines
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