Die Stimme des Feuers
Kassia ihn an. Auf den ersten Blick hatte sie ihn für einen grausamen Menschen gehalten. Jetzt war sie im Zweifel. Seine Haare, Brauen und auch die Augen hatten die Farbe des grobkörnigen graubraunen Sandes am Strand. Über der starken Nase zogen sich Sommersprossen hin. Er war kräftig gebaut, wenn auch nicht so groß wie Graelam.
»Was habt Ihr mit Blanche gemacht?« fragte sie im Flüsterton.
»Ich habe sie vergewaltigt und sie dann gehen lassen«, sagte er in aller Ruhe.
»Und was wollt Ihr mit mir machen?«
»Das wird sich finden, kleines Hühnchen«, sagte Dienwald. Dieses klägliche kleine Ding wollte ihm Trotz bieten! Es war ihr elend mißlungen. Er fühlte geradezu Mitleid mit ihr, ein ungewohntes Gefühl für ihn. »Kommt, wir reiten jetzt... Nein, nicht auf Eurer Stute. Ich nehme Euch vor mir aufs Pferd.«
Er wird mich auch vergewaltigen, dachte sie. Aber was machte das noch aus!
Sie wehrte sich nicht, als er sie auf sein Pferd hob. So ritten sie schweigend mehr als eine Stunde. Schließlich fragte ihn Kassia: »Wer seid Ihr?«
»Ihr könnt Edmund zu mir sagen«, antwortete er unverbindlich. »Und ich sage Kassia zu Euch. So heißt Ihr doch, nicht wahr?«
Sie nickte, und er fühlte ihre weichen Locken an seinem Kinn. Nicht einmal hatte sie ihren mächtigen Ehemann erwähnt. Es stimmte also, was Blanche gesagt hatte. Graelam verachtete seine Frau, und sie wußte es.
Plötzlich fragte er: »War Euer Gatte denn nicht bei Euch? Es ist sehr unklug von zwei Frauen, allein durchs Land zu reiten.«
»Mein Gatte hat von unserem Ausritt nichts gewußt. Es war mein Fehler. Aber wir sind immer noch auf seinem Gebiet. Ich hätte nicht gedacht, daß jemand wagen würde ...«
»Da habt Ihr Euch eben geirrt«, sagte Dienwald trocken. »Ihr habt noch ein ziemlich kindliches Gemüt, nicht wahr? Und außerdem seid ihr zänkisch veranlagt?«
»Zänkisch«, wiederholte sie tonlos. Nach einem langen Seufzer fuhr sie fort: »Vielleicht. Mein Gatte bringt mich manchmal zur Weißglut. Leider kann ich mich dann nicht beherrschen und zahle es ihm mit scharfen Worten zurück.« Warum nur redete sie mit ihm, als wäre er seit Lebzeiten ihr Vertrauter? Es war Idiotie. Sie war eine Idiotin. Zwei Tränen rannen ihr über die Wangen.
»Hört auf!« fuhr Dienwald sie an. »Ich habe Euch keine Veranlassung gegeben zu weinen.«
»Entschuldigt«, sagte sie, »aber ich habe Angst. Wollt Ihr mir nicht sagen, wo Ihr mich hinbringt?«
»Nein. Und Ihr haltet jetzt besser den Mund, Mylady. Wir müssen noch eine weite Strecke reiten, bevor wir Nachtruhe halten können.« Dabei legte sich sein Arm wie beschützend um ihren schlanken Leib. Es fiel ihr auf, daß er sich viel freundlicher benahm, als es seinen barschen Worten entsprach. »Ihr seid müde. Schlaft jetzt!«
Sie war später selber überrascht, daß sie, an Dienwalds Brust gelehnt, tatsächlich schlafen konnte. Er hörte ihre leisen, regelmäßigen Atemzüge, und auf einmal regten sich in ihm Gefühle, die er seit Jahren nicht mehr gekannt hatte.
Sie erwachte mit einem kleinen Aufschrei und sträubte sich kurze Zeit gegen ihn, bis er sagte: »Ich werde Euch nicht weh tun, kleines Hühnchen. Wir halten gleich für die Nacht.«
»Warum sagt Ihr >kleines Hühnchen< zu mir?«
Er fuhr ihr kurz durch die Locken. »Weil Euer Haar so weich wie Daunen ist und Ihr so zart und warm seid.«
Kassia wunderte sich immer mehr. Er verhielt sich nicht wie ein Bösewicht, obwohl er einer war.
Einige Minuten später gebot Dienwald Halt. Seine beiden Männer schickte er auf die Jagd, damit sie etwas zum Abendessen hatten. Kassia wies er Platz unter einem Baum an. Sie solle sich ruhig verhalten. »Der Ritt war lang. Jetzt könnt Ihr Euch ausruhen.« Seine Augen wurden schmal und bekamen wieder den Ausdruck der Grausamkeit. »Versucht nicht zu fliehen, sonst geht es Euch schlecht!«
Sie glaubte ihm jedes Wort, so wie sie einmal Graelam geglaubt hatte.
Nun dauerte es nicht mehr lange, bis sie Ned, einem drahtigen kleinen Mann, der so grimmig aussah wie der Teufel in ihren Kindheitsträumen, beim Abhäuten und Ausnehmen der erlegten Kaninchen behilflich war. Erstaunt blickte sie ihn an, als er mit sanfter Stimme zu ihr sagte: »Nein, Mädel, so spießt man ein Tier nicht auf. Hier, so macht man das!«
Der Geruch der gebratenen Kaninchen stieg ihr in die Nase, und sogleich knurrte ihr der Magen. Sie beruhigte sich: Was die Männer mit ihr vorhatten, würden sie auf jeden Fall tun. Es stand
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