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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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Alltag sind wir da anderer Auffassung. Das kommt daher, daß jene Unschärfe bei der Bestimmung der Objekte durch eine Information im täglichen Leben verschwindend gering ist. Ähnlich verhält es sich in der Wissenschaft. Wenngleich wir längst wissen, daß sich die Geschwindigkeiten nicht arithmetisch addieren, wenden wir keine relativistische Korrektur an, wenn wir die Geschwindigkeit eines Dampfers und eines über dessen Deck fahrenden Autos addieren. Die Korrektur ist nämlich für Geschwindigkeiten, die von der Lichtgeschwindigkeit weit entfernt sind, so gering, daß sie bedeutungslos wird. Und nun gibt es eine Entsprechung dieses relativistischen Effekts auch bei der Information: Der Begriff »Leben« ist praktisch gesehen für zwei Biologen identisch, von denen der eine auf Hawaii und der andere in Norwegen wohnt. Doch die enorme Diskrepanz zwischen den Zivilisationen hat zur Folge, daß die scheinbare Identität einer Unmenge von Begriffen notwendigerweise ins Wanken gerät. Wenn sich die Absender als Bezugsobjekt einer Population von Himmelskörpern bedienten, gäbe es damit gewiß keine Not. Aber wenn sie sich auf Atome bezogen? Die Atome als »Sache« sind weitgehend von dem Wissen über sie abhängig. Vor achtzig Jahren war ein Atom einem kleinen Sonnensystem »sehr ähnlich«. Heute ähnelt es ihm nicht mehr.
    Angenommen, sie hätten uns ein Sechseck »geschickt«. Man konnte es für den Bauplan eines chemischen Moleküls oder einer Honigwabe oder eines Gebäudes halten. Dieser geometrischen Information kann eine unendliche Zahl von Gegenständen entsprechen. Feststellen, was der Absender gemeint hat, kann man erst, nachdem der materielle Baustoff genau bestimmt ist. Wenn, wie in diesem Beispiel, das besagte Element ein Ziegelstein sein soll, reduziert dies zwar die Klasse der Lösungen, aber sie wird nach wie vor eine Menge von unendlicher Mächtigkeit bleiben, weil man ja noch immer unendlich viele sechseckige Gebäude bauen kann. Der übersandte Plan würde mit genauen Dimensionen versehen werden müssen. Es gibt jedoch einen Baustoff, dessen Bausteine selbst die richtigen Dimensionen festlegen – eben die Atome. Wenn man sie verbindet, kann man sie nicht beliebig einander nahebringen oder auseinanderschieben. Deshalb würde ich, wenn ich nur ein Sechseck vor mir gehabt hätte, geglaubt haben, dem Absender sei es um das Molekül einer chemischen Verbindung gegangen, das aus sechs Atomen oder Atomgruppen aufgebaut ist.
    Eine solche Annahme hätte das Feld für die weitere Suche schon sehr beträchtlich eingeengt.
    Einmal angenommen, sagte ich mir, der »Brief« stellt die Beschreibung einer »Sache« dar, und zwar auf Molekularebene. Die Quintessenz dieser ersten Überlegung wäre, den »Inhalt« des Briefes für etwas zu halten, was keinen Anfang und kein Ende hat, also einem Kreis vergleichbar ist. Das kann eine »kreisförmige Sache« sein oder ein ebensolcher Prozeß. Der Unterschied zwischen dem einen und dem anderen hängt, wie gesagt, zum Teil von der Wahrnehmungsskala ab. Wenn wir eine Billion mal langsamer lebten und um ebensoviel länger, wenn eine Sekunde innerhalb dieser Vorstellung einem ganzen Jahrhundert entspräche, würden wir die Erdteile mit Sicherheit für Prozesse halten, da wir mit eigenen Augen mit ansähen, wie sehr sie sich verändern: sie würden sich ja nicht schlechter vor uns bewegen als Wasserfälle oder Meeresströmungen. Und wenn wir wiederum eine Billion mal schneller lebten, würden wir den Wasserfall für eine »Sache« halten – weil er uns als etwas höchst Unbewegliches und Unveränderliches erschiene. Die Unterscheidung zwischen »Sache« und »Prozeß« würde uns also kein Kopfzerbrechen bereiten. Es ginge nurmehr darum, zu beweisen und nicht nur zu vermuten, daß der »Brief« ein »Kreis« ist, ähnlich wie die Molekularformel des Benzols. Wenn ich das Erscheinungsbild dieses Moleküls nicht auf einer Fläche übermitteln will, sondern es in eine lineare Gestalt umcodieren möchte, in eine Reihe aufeinanderfolgender Signale, ist es ganz ohne Belang, an welcher Stelle ich mit meiner Beschreibung des Benzolringes beginne. Jede Stelle ist gleich gut.
    Von diesen Positionen ging ich aus, als ich versuchte, das Problem in die Sprache der Mathematik zu übersetzen. Ich bin nicht imstande, genau darzulegen, was ich tat, weil die Umgangssprache nicht über die entsprechenden Begriffe und Worte verfügt. Ich kann nur allgemein mitteilen, daßich die rein formalen

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