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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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zu den weiteren Etappen der Übersetzungsarbeit hinführen sollte. Doch der Komplikationsgrad des »Briefs« als Algorithmus war so groß, daß die Aufgabe nicht gelöst werden konnte. Die »Kreisstruktur« des »Briefs« hingegen war zwar bemerkt worden, doch hatte man sie für zu unwesentlich gehalten, weil sie – in jener ersten Etappe der großen Hoffnungen – keine raschen und zugleich nennenswerten Erfolge versprach. Dann jedoch steckten alle so tief in der Algorithmus-Version, daß sie sich nicht mehr davon freimachen konnten.
    Man könnte meinen, ich habe gleich am Anfang keinen geringen Sieg errungen. Ich hatte bewiesen, daß der »Brief« die Beschreibung eines Kreisphänomens darstellte, und da alle empirischen Untersuchungen in ebendiese Richtung liefen, hatte ich ihnen sozusagen den Segen des mathematischen Beweises beschert, der garantierte, daß die Fährte richtig war. Damit hatte ich die Zerstrittenen wieder vereint, denn zwischen den Informationstheoretikern und Mathematikern und den Praktikern hatte die Entzweiung immer mehr zugenommen, bis sie schließlich darin gipfelte, daß sich die Antagonisten auf mich beriefen. Die Zukunft sollte zeigen, wie wenig ich erreicht hatte, als ich aus einem Gefecht mit nur einem – irdischen – Rivalen siegreich hervorgegangen war.

VII
    Wenn Sie einen Naturwissenschaftler fragen, was ihm bei dem Wort »Kreisprozeß« einfällt, wird er Ihnen bestimmt antworten: Leben. Die Vorstellung, uns sei die Beschreibung von etwas Lebendigem übersandt worden, was wir rekonstruieren könnten, erschien zugleich schockierend und verlockend. Nach den hier beschriebenen Ereignissen war ich zwei Monate lang Schüler beim Projekt und studierte der Reihe nach alles, was die Operativgruppen, auch »Stoßtrupps« genannt, im Verlaufe eines Jahres zuwege gebracht hatten. Es gab eine ganze Menge solcher »Trupps« – für Biochemie, Biophysik, Festkörperphysik –, die dann zum Teil zu einem Synthesenlaboratorium zusammengefaßt wurden – die organisatorische Struktur des Projekts wurde während seines Bestehens immer komplizierter, und manche behaupteten, sie sei bereits komplizierter als der »Brief« selber.
    Das theoretische Ressort, zu dem die Informationstheoretiker, die Linguisten, Mathematiker und theoretischen Physiker gehörten, arbeitete unabhängig von den anderen. Sämtliche Forschungsergebnisse wurden auf höchster Ebene vorgelegt – dem Wissenschaftlichen Rat, in dem die Gruppenkoordinatoren und »die großen Vier« saßen, aus denen nach meinem Hinzukommen »die großen Fünf« geworden waren.
    Das Projekt hatte, als ich dazustieß, zwei konkrete materielle Ergebnisse aufzuweisen; es war eigentlich nur ein Ergebnis, aber die Gruppe der Biophysiker und die der Biochemiker waren unabhängig voneinander darauf gekommen. Hier wie dort hatte man, zuerst auf dem Papier oder vielmehr im Gedächtnis des Computers, eine Substanz hergestellt, die man aus dem Brief »herausgelesen« hatte und die, ausgelöst durch die erwähnte Autarkie, zweimal benannt worden war: mit »Froschlaich« und mit »Herr der Fliegen«.
    Wenngleich diese doppelten Anstrengungen nach Verschwendung aussehen mögen, so hatten sie doch auch ihre gute Seite – denn wenn zwei Menschen, ohne sich miteinander verständigt zu haben, einen rätselhaften Text analog übersetzen, darf man annehmen, daß sie wirklich bis zu seinen »Invarianten« vorgedrungen sind, daß das, was sie ermittelt haben, objektiv in ihm enthalten und nicht das Ergebnis ihrer Voreingenommenheiten ist. Zwar kann man auch diese Behauptung für diskutabel halten. Für zwei Mohammedaner sind die gleichen »Stückchen« aus dem Evangelium »wahr«, im Unterschied zum ganzen Rest. Wenn die Menschen in derselben Weise vorprogrammiert sind, können die Ergebnisse ihrer Mühen übereinstimmen, ohne daß sie sich abgesprochen hätten, weil in jeder gegebenen historischen Epoche das Niveau des allgemeinen Wissens den Leistungen eine Grenze setzt. Deshalb waren die atomaren, aber unabhängig erzielten Lösungen der Physiker im Osten und im Westen einander zum Beispiel so ähnlich, deshalb konnten auch die einen nicht das Laserprinzip entdecken, ohne daß es den anderen unbekannt geblieben wäre. Übereinstimmung darf man in ihrem Erkenntniswert also auch nicht überschätzen.
    Der »Froschlaich« – dieser Name war die Erfindung der Biochemiker – war eine manchmal halbflüssige, unter anderen Bedingungen wieder gallertartige Substanz: bei

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