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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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Häufigkeitsanalyse ergeben hatte, kehrten gewisse Partien des Codes scheinbar immer wieder, so wie Wörter in Sätzen, aber die jeweils andere Umgebung bewirkte feine Unterschiede in der Ausformung der Impulse, die in unserer binären Version nicht berücksichtigt worden waren. Die ungeduldigen Empiriker, die sich immerhin auf ihre in den unterirdischen »silbernen Gewölben« verwahrten Schätze berufen konnten, versteiften sich darauf, daß es sich nur um Verzerrungen handeln könnte, die bei der viele Parsec langen Wanderung der Neutrinoströme durch die endlosen Weiten entstünden – ein Symptom der übrigens ohnehin verschwindend geringen Desynchronisation des Signals, seines Verwischens. Ich beschloß, dem auf den Grund zu gehen. Ich verlangte, daß das Signal oder zumindest der erheblichere Teil davon neu aufgezeichnet wurde, und verglich den von den Astrophysikern erhaltenen neuen Text mit den entsprechenden Ausschnitten von fünf früheren unabhängigen Empfangsergebnissen.
    Das Erstaunliche war, daß das bisher niemand so genau gemacht hatte. Wenn man eine Unterschrift auf ihre Echtheit untersucht und dabei immer stärkere Vergrößerungsgläser benutzt, gelangt man schließlich an einen Punkt, wo die Tintenstriche der Buchstaben auf dem Papier, die in derriesenhaften Vergrößerung gesehen nur noch als Streifen erscheinen, in einzelne Elemente zu zerfallen beginnen und sich über die einzelnen hanfseildicken Zellulosefasern verteilen. Dabei ist es ein Ding der Unmöglichkeit zu bestimmen, bei welchem Grad der Vergrößerung der Einfluß des Schreibers, die Formen, die sein »Charakter« der Schrift gegeben hat, aufhören und wo der Wirkungsbereich der statistischen Bewegungen und der Faserschwingungen der Hand, der Feder, des ungleichmäßigen Tintenflusses beginnt, über die der Schreiber nicht mehr die mindeste Gewalt hat. Man kann jedoch dahinterkommen, indem man eine Reihe von Unterschriften – wie gesagt, eine Reihe und nicht nur zwei! – miteinander vergleicht, weil dann das, was mit konstanter Regelmäßigkeit auftritt, ins Auge fällt und sich von dem abhebt, was auf den Einfluß jeweils unterschiedlicher Fluktuationen zurückgeht.
    Es gelang mir nachzuweisen, daß es das »Verwischen«, die »Desynchronisation«, das »Verschwimmen« des Signals nur in den Vorstellungen der Gegner gab. Die Genauigkeit der Wiederholungen ging bis unmittelbar an die Grenze des Auflösungsvermögens der von den Astrophysikern benutzten Aufzeichnungsapparatur – und da man schwerlich annehmen konnte, daß der gesuchte Text auf eine ausgerechnet solcherart geeichte Apparatur zugeschnitten war, hieß das, daß die Genauigkeit viel zu groß war, als daß wir aus ihr auf die Leistungsgrenzen des Senders zu schließen vermochten.
    Das löste eine gewisse Verwirrung aus. Von da an hieß ich nur noch der »Prophet des Herrn« oder der »Rufer in der Wüste«. Ende September arbeitete ich also schon in zunehmender Isolation. Es gab Augenblicke, besonders nachts, da mein wortloses Denken und der Text eine so innige Beziehung eingingen, als hätte ich ihn schon beinahe ganz erfaßt, und in jenem eigentümlichen Schwebezustand erahnte ich, wie vor einem körperlosen Sprung, das andereUfer, doch nie reichte meine Kraft für die letzte Anstrengung aus.
    Jetzt erscheinen mir jene Zustände als Selbsttäuschung. Im übrigen fällt es mir heute leichter anzuerkennen, daß nicht nur ich dazu nicht fähig, nicht imstande war, sondern daß die Aufgabe die Kräfte jedes Menschen überstieg. So wie damals meine ich auch heute, daß sich das Problem nicht im gemeinsamen Vorstoß bewältigen ließ – ein einzelner mußte das Schloß sprengen, nachdem er zuvor die angelernten Denkgewohnheiten über Bord geworfen hatte, ein einzelner oder keiner. Sich über die eigene Ohnmacht derart klar Rechenschaft abzulegen, ist gewiß jammervoll, vielleicht auch egoistisch. Es sieht so aus, als suchte ich mich zu rechtfertigen. Aber wenn man irgendwo die Eigenliebe, den Ehrgeiz abwerfen, das Teufelchen in seinem Herzen, das um Erfolg betet, vergessen muß, dann wohl in dieser Frage. Meine Isolation, meine Vereinsamung empfand ich damals deutlich. Das Sonderbarste ist, daß jene Niederlage, die ja doch nicht wegzuleugnen ist, in meiner Erinnerung einen Geschmack von Größe hinterlassen hat und daß mir diese Stunden, diese Wochen heute, da ich an sie denke, unschätzbar viel bedeuten. Ich hätte nie geglaubt, daß mir so etwas passieren

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