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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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weil die Wirkung der Strahlung auf dieeinmal entstandenen Organismen praktisch gleich Null war.
    Die Dauer der Strahlung flößte mir Furcht ein. Gewiß, es war auch möglich, daß sich die Absender nicht mehr unter den Lebenden befanden und der Prozeß, den ihre Astroingenieure in einem Stern oder einer Sternengruppe in Gang gesetzt hatten, so lange ablief, wie die Energie der Sonnensender reichte. Die Geheimhaltung unserer Arbeiten erschien mir, verglichen damit, als Verbrechen. Es ging doch nicht um eine Entdeckung oder um einen Berg von Entdeckungen, es ging darum, die Welt endlich mit offenen Augen zu betrachten. Bisher waren wir blinde Welpen gewesen. Im Dunkel der Galaxis leuchtete ein Intellekt, der nicht versuchte, uns seine Gegenwart aufzudrängen, sondern der sie, im Gegenteil, aufs sorgfältigste verbarg.
    Unsäglich seicht erschienen mir die bisherigen Hypothesen, die bis zum Beginn des Projekts so populär gewesen und zwischen einem Pessimismus, der das Silentium universi als natürlichen Zustand bezeichnete, und jenem gedankenlosen Optimismus hin- und hergependelt waren, der deutlich buchstabierte Nachrichten erwartete, mittels derer sich die um die Gestirne verstreuten Zivilisationen verständigen sollten wie die Kinder in der Spielschule. Noch ein Mythos mehr ist in die Brüche gegangen, dachte ich bei mir, noch eine Wahrheit mehr ist über uns am Firmament erschienen, und wie eh und je vermögen wir auch mit ihr nichts anzufangen.
    Es blieb die andere, bedeutungstragende Seite des Signals. Ein Kind ist imstande, einzelne, einem philosophischen Werk entnommene Sätze zu verstehen, aber es erfaßt nicht das Ganze. Unsere Situation war ähnlich. Das Kind kann hingerissen sein vom Inhalt der einzelnen Sätze, und auch wir staunten über die kleinen Ausschnitte, die wir entschlüsselt hatten. Weil ich schon lange über dem Sternentext hockte und bei meinen wiederaufgenommenenVersuchen engen Umgang mit ihm pflegte, war er mir eigentümlich vertraut geworden, und viele Male – wenngleich nur rein intuitiv und mit dem Gefühl, er überrage mich wie ein Berg – bemerkte ich, immer wie durch Nebel, wie herrlich er gebaut war, ich ersetzte also meinen mathematischen Sinn gewissermaßen durch einen ästhetischen, vielleicht kam es aber auch zu einer Verschmelzung beider.
    Jeder Satz eines Buches bedeutet etwas, auch wenn er aus dem Kontext herausgerissen wird – in seinem Umfeld verbindet er sich mit der Bedeutung der anderen Sätze, jener, die ihm vorausgegangen sind, und jener, die auf ihn folgen. Aus dieser gegenseitigen Durchdringung, dem allmählichen Wachstum, der Zusammenballung um bestimmte Herde entspringt schließlich jener in der Zeit erstarrte Gedanke, welcher das Werk ausmacht. Beim »Sternencode« ging es weniger um die Bedeutung der Elemente, gleichsam der »Sätze«, als vielmehr um deren Vorbestimmung, hinter die ich nicht kommen konnte. Doch er besaß eine innere, eine schon rein mathematische Harmonie, wie sie sich dem Betrachter auch in einer großen Kathedrale offenbart, ohne daß er ihre Bestimmung oder die Gesetze der Statik und die Kanons der Architektur begreift, ja sogar ohne daß er die Stilarten kennt, die da verkörpert, die da Gestalt geworden sind. Ich war solch ein Betrachter, und zwar einer, der den Blick nicht losreißen konnte. Der Text war deshalb ungewöhnlich, weil er keinerlei »rein ortsgebundene« Eigenschaften besaß. Ein Schlußstein ohne Bogen und ohne Belastung ist kein Schlußstein; insofern ist die Architektur an einen Ort gebunden. Bevor man die Synthese des »Froschlaichs« vorgenommen hatte, waren einzelne Elemente aus dem Code herausgerissen worden, denen man atomare und stereochemische »Bedeutungen« zuschrieb.
    Das hatte etwas von Vandalismus gehabt, so als wäre man nach der Vorlage des »Moby Dick« darangegangen,sämtliche Wale abzuschlachten und ihr Fett auszulassen. Man kann so verfahren, im »Moby Dick« ist auch das Schlachthaus enthalten, wenngleich im diametral entgegengesetzten Sinne, aber darüber kann man sich hinwegsetzen, man kann ein Werk zerschnippeln, kann die einzelnen Stücke beliebig zusammenstellen. War der Code also trotz aller Weisheit, die bei ihm Pate gestanden haben mußte, tatsächlich so wehrlos? Alsbald sollte ich mich überzeugen, daß es womöglich noch schlimmer war, denn meine Befürchtungen erhielten neue Nahrung, und so will ich den sentimentalen Charakter dieser meiner Bemerkungen auch nicht bestreiten.
    Wie die

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