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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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Persönlichkeit abgetrennt, sozusagen in legale Bahnen gelenkt innerhalb eines besonderen Repertoires von Formen. SÜNDE und VERGEBUNG werden durch die SCHANDE und die Taktik zu ihrer Vermeidung ersetzt. Es erfolgt kein Erkundungsvorstoß ins Innere der Persönlichkeit: Das Gefühl für das, was ›richtig‹ ist, ›was sich gehört‹, wird durch das GEWISSEN ersetzt, und die besten Geister trachten danach, ›der Sinne zu entsagen‹. Ein guter Christ kann ein guter Physiker sein, aber jemand, der ein guter Buddhist, Konfuzianist oder Bekenner der Lehre des Zen ist, kann kein guterPhysiker werden, weil er sich dann mit alledem befassen würde, was diese Glaubenslehren zur Gänze entwerten. Bei dieser Ausgangsposition faßt die gesellschaftliche Auslese gewissermaßen die gesamte ›intellektuelle Crème‹ der Bevölkerung zusammen und gestattet ihr, sich ausschließlich in mystischen Praktiken, zum Beispiel im Yoga, zu entladen. Eine solche Kultur wirkt wie eine Zentrifuge: Die Begabten schleudert sie von den gesellschaftlichen Plätzen fort, an denen sie die Empirie in Gang setzen könnten, und ihren Geist verriegelt sie durch Rituale, die instrumentale Arbeiten als ›geringere‹ und ›schlechtere‹ verbieten. Nun, und eben das Potential des christlichen Egalitarismus ist doch, obwohl es ihnen zeitweilig erlegen ist, niemals vollständig verschwunden, und indirekt liegt eben da auch der Ursprung der Physik, mit all ihren Konsequenzen.«
    »Die Physik als Askese?«
    »Oh, ganz so einfach ist das nicht! Das Christentum war eine ›Mutation‹ des Judaismus als einer ›geschlossenen‹, weil nur für Auserwählte bestimmten Religion. Der Judaismus war also, als Erfindung, etwas wie die Euklidische Geometrie. Man brauchte sich nur Gedanken über die Ausgangsaxiome zu machen und gelangte, wenn man sie universell erweiterte, zu einer allgemeineren Lehre, die bereits alle Menschen für ›Auserwählte‹ hält.«
    »Die christliche Lehre als Entsprechung einer generalisierten Geometrie?«
    »Im gewissen Sinne ja, auf rein formaler Ebene – über einen Austausch der Zeichen, innerhalb des hinsichtlich der Werte und Bedeutungen gleichen Systems. Diese Operation führte unter anderem dazu, daß die Theologie der Vernunft für rechtsgültig anerkannt wurde. Sie war der Versuch, nicht auf eine einzige aller menschlichen Eigenschaften zu verzichten; weil der Mensch vernunftbegabt war, hatte er auch das Recht, seinen Verstand zu gebrauchen, und das ergab dann, nach einer entsprechenden Anzahl von Kreuzungen und Verwandlungen, die Physik. Das ist natürlich ungeheuer vereinfacht ausgedrückt.
    Die christliche Lehre ist die generalisierte Mutation des Judaismus, die Anwendung einer Systemstruktur auf sämtliche möglichen menschlichen Existenzen. Das war das rein strukturelle Merkmal des Judaismus schon zu Beginn. Eine analoge Operation läßt sich nicht am Buddhismus und nicht am Brahmanismus vornehmen, von der Lehre des Konfuzius ganz zu schweigen. So fiel also die Entscheidung damals, als der Judaismus entstand, vor mehreren tausend Jahren. Es gab auch eine andere Möglichkeit. Ein Hauptproblem, ein typisch weltliches, mit dem jede Religion fertig werden muß, ist der Sex. Man kann ihn verehren, ihn also zum positiven Zentrum einer Lehre machen. Man kann ihn abgrenzen, ihn neutral separieren, aber man kann ihn auch als Feind betrachten. Letzteres ist die kompromißloseste Lösung, und die christliche Lehre hat sie gewählt.
    Ja, wenn der Sex ein biologisch weniger wichtiges Phänomen, wenn er eine nur periodisch auftretende Erscheinung geblieben wäre wie bei manchen Säugetierarten, könnte er keine zentrale Bedeutung besitzen, weil er als ein bestimmtes pulsierendes, zeitweiliges Phänomen erschiene. Doch das wurde vor etwa anderthalb Millionen Jahren entschieden. Von da an ist der Sex immer das Punctum saliens eigentlich jeder Kultur gewesen. Weil man ihn nicht einfach leugnen kann, muß er ›zivilisiert‹ werden. Der Mensch des Abendlandes fühlte sich schon immer durch das inter faeces et urina nascimur in seiner Würde verletzt. Eben dieser Gedanke war es, der die ERBSÜNDE als GEHEIMNIS in die Genesis eingebracht hat. So war das! Eine andere Art von Sexualzyklus oder auch eine andere Art von Religion hätten uns auf einen anderen Weg bringen können.«
    »Den Weg der zivilisatorischen Stagnation?«
    »Nein, ganz einfach den einer verzögerten Entwicklung in der Physik.«
    Rappaport warf mir ein »unbewußtes

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