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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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thermodynamischen Wahrscheinlichkeit. Es läßt sich sogar durch eine stochastische Berechnung beweisen. Ein ideales Gleichgewicht der Kräfte, also eine vollkommene Ebenbürtigkeit, ist praktisch ein so unwahrscheinlicher Zustand, daß er nicht möglich ist. Ein derartiges Gleichgewicht wird allein durch eine besondere Koinzidenz erreicht. Die gesellschaftliche Vereinigung ist die eine Folge von Prozessen, und die Erlangung von instrumentalem Wissen ist die andere Folge.
    Die Integration im Planetenmaßstab kann auf einer noch nicht endgültigen Etappe »eingefroren« werden, falls es – vorzeitig – zur Entdeckung der Nukleonik kommt. Denn nur dann wird die schwächere Seite der stärkeren ebenbürtig, weil jede Seite über Kernwaffen verfügt und damit die gesamte Art vernichten kann. Gewiß, die gesellschaftliche Integration vollzieht sich immer auf der Basis von Technik und Wissenschaft, aber die Entdeckung der Kernenergie kann regulär in die Zeit nach der Vereinigung fallen, und dann hat sie keine verhängnisvollen Konsequenzen mehr. Die Selbstgefährdung der Art, das heißt, ihre Neigung, »ungewollt Selbstmord« zu begehen, ist gewiß eine Funktion der Zahl von elementaren Gemeinschaften, die über »ultimative Waffen« verfügen.
    Wenn es auf irgendeinem Planeten tausend miteinander im Streit liegender Staaten gibt, jeder aber tausend Kernsprengköpfe besitzt, ist die Chance eines rein lokalen Konflikts, der sich zur Apokalypse auswächst, um das Vielfache größer als dann, wenn es nur wenige Antagonisten gibt. Und so entscheidet das Verhältnis dieser beiden Kalender – dessen, der die zeitliche Aufeinanderfolge wissenschaftlicher Entdeckungen anzeigt, und dessen, der die Erfolge in der Verschmelzung der einzelnen gesellschaftlichen Systeme registriert – über die Geschicke der einzelnen Psychozoika in der Galaxis. Wir auf der Erde hatten sicherlich Pech: Der Übergang von der präatomaren zur atomaren Zivilisation ging untypisch vonstatten, zu früh, und eben dies bewirkte die »Einfrierung« des Status quo, bis wir auf die Neutrinostrahlung stießen. Für einen vereinigten Planeten wäre die Entschlüsselung des »Briefs« etwas Positives, ein Schritt, der Zugang zum »Klub der kosmischen Zivilisationen« verschaffen würde. Doch für uns, in unserer Situation, ist dies das letzte Klingelzeichen, bevor der Vorhang fällt.
    »Wenn Galilei und Newton als Kinder an Keuchhusten gestorben wären«, sagte ich, »hätte sich die Physik vielleicht ausreichend verzögert, und die Spaltung des Atoms wäre in das XXI. Jahrhundert gefallen. Dieser nicht stattgefundene Keuchhusten hätte uns retten können.«
    Rappaport warf mir vor, ich vulgarisiere: Die Physik sei in ihrer Entwicklung ergodisch, und der Tod von einem oder auch zwei Menschen habe ihren Lauf nicht aufhalten können.
    »Na schön«, entgegnete ich, »dann wäre es eben unsere Rettung gewesen, wenn sich im Westen eine andere Religion zur herrschenden entwickelt hätte als das Christentum oder wenn sich, Jahrmillionen früher, die Sexualsphäre des Menschen anders herausgebildet hätte.«
    Dazu aufgefordert, begann ich Argumente für diese These vorzubringen: »Die Physik, als ›Königin der Empirie‹, ist nicht zufällig im Westen entstanden. Die Kultur des Westens ist, dank der christlichen Lehre, eine Kultur der SÜNDE. Der Sündenfall – und der erste war ein sexueller! – spannt die gesamte Persönlichkeit des Menschen zu Besserungsarbeiten ein, die die mannigfaltigsten Sublimationstypen hervorbringen, allen voran die Praxis der Erkenntnis.
    In diesem Sinne hat die christliche Lehre der Empirie Vorschub geleistet, wenngleich natürlich unwissentlich: Sie hat ihr Möglichkeiten eröffnet, hat ihr die Chance gegeben zu wachsen. Die für den Osten, für seine Kulturen, typische, zentrale Kategorie hingegen ist die SCHANDE, weil das falsche Tun des Menschen dort nicht nach christlichem Verständnis ›sündig‹, sondern höchstens ›schändlich‹ ist, und zwar vorwiegend im äußerlichen Sinne: der Verhaltensformen. Und so siedelt die Kategorie der Schande den Menschen gewissermaßen ›außerhalb des Geistes‹ an, im Bereich zeremonieller Praktiken. Für die Empirie ist dann einfach kein Platz, ihre Chance wird in dem Augenblick zunichte, da materielle Handlungen abgewertet werden: Anstelle der Sublimierung der Triebe erscheint deren ›Zeremonialisierung‹; die Ausschweifung, die nicht mehr ›Laster des Menschen‹ ist, wird von der

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