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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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schlimmste Missetäter bin«, gab Bruder Gregory zurück und schaute dabei zu zwei fadenscheinigen Schreibern hinüber, einer davon in einer Oxford-Robe, die Nicholas Waren prüften.
    »Ich habe ein neues bekommen, das deinem heutigen Stil besser entspricht«, sagte Nicholas und nahm einen eher kleinen, schlicht gebundenen Band zur Hand.
    »Ah, das Incendium Amoris – du führst mich in Versuchung, Nicholas, aber ich bemühe mich dieser Tage, keinen Besitz anzusammeln, da ich erneut der Welt entsagen will, wenn diese Arbeit abgeschlossen ist«, sagte Bruder Gregory selbstgefällig, nahm das Buch und machte sich daran, seinen Inhalt durchzusehen.
    »Freude am Gebrauch eines Gegenstandes ist eine der Definitionen von Besitz«, rief ihm Nicholas ins Gedächtnis.
    Bei diesen Worten blickte der erste Leser unwirsch über die Unterbrechung auf – dann erkannte er Bruder Gregory.
    »Gregory? Ich hätte dich kaum wiedergekannt, du siehst so blühend aus. Dein Gesicht ist fetter.«
    »Ach, Robert – was für eine Überraschung –, aber mein Gesicht ist nicht fett«, bemerkte Bruder Gregory friedfertig und blickte vom Buch auf.
    »Das hab ich auch nicht gesagt, du altes Schlachtroß, ich sagte fetter. Früher konnte man dir das Vaterunser durch die Backen lesen.«
    »Wenn du weiter meine Physiognomie beleidigst, Robert, wirst du heute allein speisen müssen«, gab Bruder Gregory gelassen zurück und blätterte um.
    »Hoffentlich bildest du dir nicht ein, daß ich dir wieder eine Mahlzeit spendiere, du Bandwurm in Menschengestalt.«
    »Ich bildete mir ein, ich könnte, wenn ich Nicholas und seine Brut ausführe, auch dich mitnehmen, Robert. Wie ich schon sagte, entledige ich mich dieser Tage meines Besitzes, und gestern habe ich Honorar bekommen.« Bruder Gregory blickte von dem Buch auf und wölbte eine Braue, während es in seinen braunen Augen vergnügt glitzerte.
    »Herr im Himmel, hast du eine Goldmine gefunden? Oder betätigst du dich als Taschendieb?« fragte Robert. Der Scholar aus Oxford klappte das Buch zu und kam, ohne es hinzulegen, näher um zu lauschen. Er war entsetzlich dünn und ein wenig blaß um den Mund.
    »Nein, ich gebe dieser Tage Leseunterricht. Und jedes Mal, wenn ich dort hinkomme, stopft man mich unanständig voll. Seit ich dort arbeite, mußte ich schon zwei neue Löcher in meinen Gürtel machen. Und du, Robert, kopierst du immer noch für diesen Kaufmann?«
    »Nein, ich habe einen besseren Gönner gefunden – einen Grafensohn, der gern Oden auf sich schreiben läßt und etwas auf literarisch gebildete Saufkumpane hält.«
    »Robert, in solchen Diensten sei auf der Hut vor den Fallstricken des Bösen; das vornehme Leben hat dich in Versuchung geführt«, sagte Bruder Gregory und drohte ihm spöttisch mit dem Finger – doch als Freund wußte Robert, daß es auch durchaus ernst gemeint war.
    »Sei doch nicht so klösterlich freudlos, Gregory, sonst komme ich noch auf den Gedanken, du hältst dich an eine Regel und geißelst dich des Nachts, statt wie ein richtiger Kerl zu trinken.«
    »Also, trinken möchte ich jetzt wohl, wenn Nicholas Beatrix und die Kinder ruft und den Laden dichtmacht.« Es gab Zeiten, da hätte Bruder Gregory Beatrix nie bemerkt. Sie war älter als Nicholas und gleichsam ein stummer Schatten, wenn Männer im Raum zugegen waren. Doch nach ein, zwei Monaten des Schreibens für Margaret hatte er sie eines Tages auf einmal angeschaut und diesen Blick in ihren Augen gesehen. Sie hat aufgegeben, ging es ihm plötzlich auf, und dann war ihm ein Gedanke durch den Kopf geschossen, der ihm sonst fremd war: eine Vision von Wäschezubern und Wassereimern an der Schultertrage und Kochen und Aschehinausbringen und Schrubben von hartnäckigem und ewigem Schmutz und nie Ausgang, außer zum Markt und zur Kirche. Und danach war er nie wieder ganz der Alte. Die Vorstellung, daß ein Mensch so die Hoffnung aufgab, stimmte ihn traurig. Er selbst lebte von der Hoffnung; und sie allein hatte ihn nie im Stich gelassen. Er wollte sie ihr wiedergeben, allen, die sie irgendwie verloren hatten, und auf diese Weise sich selbst retten. Doch ihm wollte rein gar nichts dazu einfallen, außer daß er auch sie mitnahm, wenn er Nicholas einlud – und das wäre ihm früher nie in den Sinn gekommen.
    »Ich habe noch einen Kunden«, erinnerte ihn Nicholas sanft. Bruder Gregory musterte den Scholaren. Seine blassen, dünnen Hände, die das Buch hielten, während er vorgab zu lesen, waren fast

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