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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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schließen, dachte Margaret. Doch als sie aufstehen wollte, kam Lion hereingetapst und wollte geknuddelt werden. Dann machte sie endgültig die Tür zu und setzte sich zum Schreiben.
    »Was er wohl macht?« fragte sie sich, als sie die Feder in die Tinte tauchte und den ersten Satz zu Papier brachte.

    Als ich aus dem düsteren Dämmerlicht des Kapitelsaals in den hellen Sonnenschein trat, mußte ich blinzeln. Ich war ganz verstört bei der Vorstellung, daß man überall, wohin ich auch ging, meinen allerunschuldigsten Worten lauschen, mich belauschen, meinen Freunden nachspionieren und alle unrechten Gedanken, die man bei mir festzustellen meinte, weiterleiten würde. Am meisten Angst aber machte mir, daß ich für meine Freunde eine Gefahr darstellte. Auf einmal konnte ich unser Haus so sehen, wie diese Kleriker es sehen würden: in einem Stadtteil der Diebe und Halsabschneider gelegen, eine finstere Bruchbude, die zwei zweifelhafte Wehmütter beherbergte, welche fragwürdige Heilbehandlungen durchführten, dazu einen verrückten Alchimisten, Flüchtlinge und ein Wechselbalg. Und noch zwei seltsame Haustiere, die den Hexenfamiliaris ungemein gut zupaß kommen würden. Jetzt würden sie mich im Auge behalten. Wie lange würde es dauern, bis Bruder Malachi in Verdacht geriet, der ja kein Klosterbruder war? Was würde geschehen, wenn sie auch nur ein ganz kleines bißchen von dem herausbekamen, womit er sich beschäftigte? Ich könnte es nicht ertragen, wenn ich seinen Kopf oben auf einer Stange sehen müßte. Und wenn sie ihn schnappten, was würde wohl aus Hilde werden, die ohne ihn nicht leben konnte, und den anderen, die nirgendwohin wußten? Wenn ich sie liebte, dann konnte ich dort nicht mehr wohnen. Nie würde ich wissen, an welchem Tag oder zu welcher Stunde ich ihnen den Tod ins Haus schleppte. Mir war sehr elend zumute. Die ganze Zeit über hatte ich bei allem, was ich tat, nur an mich selbst gedacht. Ich hatte mir eingebildet, ich diente höheren Zwecken, doch es war selbstsüchtig und hoffärtig von mir gewesen, andere ohne deren Wissen mit in Gefahr zu bringen. »Lebt wie andere Frauen, krempelt und spinnt Wolle. Hört auf mit der Geburtshilfe und mit dem Unruhestiften. Heiratet und lebt ehrbar, denn wenn Ihr Euch nicht bessern könnt, werdet Ihr brennen.« Immer noch sah ich ihre harten Gesichter vor mir, sah, wie sich ihre Fischmäuler öffneten und schlossen. Selbst David war jetzt in Gefahr, als Bruder einer Ketzerin, die widerrufen hatte. Wenn ich doch mit ihm sprechen und ihm sagen könnte, daß es mir leidtat; aber ich wußte, daß ich ihn um seinetwillen nie wiedersehen durfte. Wie sollte ich bloß leben? Spinnen ist nie meine Stärke gewesen, und vom Krempeln muß ich niesen.
    Ich ließ den Kopf derart hängen, daß ich nicht mitbekam, wie eine Maultiersänfte am Fuß der Treppe hielt, die zur Pforte des Außenklosters führte. Der alte Master Kendall ächzte und keuchte mit verbundenem Fuß die Stufen hoch und stützte sich dabei auf die Schultern von zwei stämmigen Knechten. Sein schütteres, graues Haar hing ihm zerzaust unter dem modischen, juwelenbesetzten Filzhut hervor, und seine Goldketten klirrten und klingelten auf der soßenfleckigen Passe seines prächtigen, pelzgefütterten Gewandes.
    »Nanu, Mistress Margaret! Ihr seid draußen, und das ohne Begleitung! Ich befürchtete schon, ich würde Euch im Gefängnis vorfinden – oder schlimmer noch, in Begleitung Eurer Scharfrichter. Dann wäre ich zu spät gekommen.«
    »O Master Kendall, warum seid Ihr gekommen? Es ist gefährlich, mich zu kennen«, sorgte ich mich.
    »Mein liebes Kind, ich bin gekommen, weil ich Eure Inquisitoren bestechen wollte.« Kendall lächelte sein komisches, schiefes Lächeln. »Aber Ihr scheint auch ohne mich freigekommen zu sein. Wie habt Ihr denn das geschafft?«
    »Sie haben mich ausgefragt und ausgefragt. Dann hat sich mein Bruder für mich eingesetzt, und weil er Priester ist, haben sie ihm zugehört. Aber sie haben gesagt, ich soll bereuen und mich ändern, noch einmal komme ich nicht ungeschoren davon.«
    Kendall schüttelte den Kopf. »Da habt Ihr Glück gehabt. Auf dem Festland entkommt kein menschliches Wesen dem Heiligen Offizium lebendig. Alle gestehen unter der Folter. Aber unser guter König erlaubt nicht, daß im Stadium der Befragung gefoltert wird. Verträgt sich nicht mit dem englischen Recht, sagt er. Und diese selbstgestrickten Affären, denen fehlt einfach – der Biß.« Er nahm meine Hand

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