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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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seinem Hals traten die Adern hervor.
    »Bruder Gregory!« Margaret war entsetzt. Sie legte ihm die Hand aufs Handgelenk, wollte die heftige Geste abschwächen. Bruder Gregory blickte die Faust überrascht an, so als ob er gar nicht gemerkt hatte, daß er damit den Himmel bedrohte, dann entriß er sie ihr.
    »Er will keinen Sohn, er will ein Schoßhündchen«, knurrte Bruder Gregory. »Jetzt zieht er an der Hundeleine, und schon gehorche ich.«
    »Vielleicht – vielleicht würde es besser klappen, wenn Ihr es Gott überlassen würdet, ob er Euch sehen will«, wagte Margaret einzuwerfen.
    »Hmpf!« schnaubte Bruder Gregory. »Ihr hört Euch genauso an wie der Abt. Der war ebenso schlimm wie Vater. Zuweilen hätte man fast denken können, sie steckten unter einer Decke. Da hat er doch gesagt, ich müßte meinen Vater ehren und ihn ausreden lassen. Wenn das nicht eine betrübliche Einstellung für jemanden ist, der so jenseitig sein soll. Der hat mich auch nie verstanden. Er hat gesagt, meine Hoffart sei noch nicht genügend besiegt, als daß ich die Kontemplation erlernen könne, und ich solle in der Welt dienen, bis ich gelernt hätte, was er damit meinte. Hoffart! « Gregory klang bitter.
    »Ich bin ganz und gar nicht hoffärtig! Haltet Ihr mich für hoffärtig, Margaret!«
    »O, ein ganz kleines bißchen, Bruder Gregory.«
    »Habe ich Euch gegenüber meinen Stolz herausgekehrt? Nein! Ich bin hier und überall sonst sehr demütig gewesen. Das habt Ihr doch bemerkt, nicht wahr?«
    »Natürlich, natürlich.«
    »Seht her, das nennt sich nun Hoffart!« Bruder Gregory riß sich das Gewand auf der Brust auf. Statt seines langen Leinenunterhemds trug er etwas Dunkles, Übelriechendes und Haariges.
    »Bruder Gregory, doch nicht schon wieder das härene Gewand? Das sieht aber scheußlich aus. Davon wird doch Eure Haut wund.«
    »Meine Haut ist sehr dick. Nicht wie Eure. So leicht wird die nicht wund.« Ein selbstgefälliger Ausdruck huschte über Bruder Gregorys Gesicht, ehe er wieder in Selbstmitleid zerfloß.
    »Ich kasteie mich. Kasteie meine Hoffart, zumindest die armseligen, verkümmerten Reste, die noch davon übrig sind! Und in diesem Stadium muß ich zu meinem Vater zurück und mich schon wieder kasteien lassen!«
    »Gewißlich ist es so schlimm nun auch wieder nicht, Bruder Gregory«, sagte Margaret.
    »Die Eitelkeiten dieser Welt setzen mir so zu«, knurrte er.
    »Aber Ihr werdet doch sicher wiederkommen und meine Rechtschreibung verbessern?«
    »Das verspreche ich Euch, Margaret. Wenn Ihr wollt, lege ich sogar einen Eid darauf ab.«
    »Nicht nötig. Versprecht es und gebt mir Nachricht, wenn Ihr wieder im Lande seid.«

Kapitel 10
    M argaret hörte von ihrem Platz im Wohnzimmer, wo sie vor einem leeren Blatt Papier saß, einen fürchterlichen Spektakel von der Küche her. Die Elster der Köchin kreischte, die Köchin schimpfte, und ein Eimer fiel scheppernd um. Durch die geöffnete Tür erhaschte Margaret einen Blick auf drei kleine Lehrbuben, einer von ihnen mit einer Fleischpastete in der Hand, die wie gehetztes Wild durch die Diele auf die Straße liefen, wo sie sich verzogen, um ihre Beute zu teilen. Kendalls Lehrbuben kamen zumeist aus guten Familien – jüngere Söhne, deren Väter in harter Münze dafür bezahlten, daß man sie im lukrativen Einfuhr-Ausfuhr-Gewerbe anlernte. Es bestand eine große Nachfrage nach den wenigen vorhandenen Lehrstellen, denn es war bekannt, daß die Kinder unter Margarets Obhut gediehen, und heutzutage dachte man so modern, daß eine kaufmännische Ausbildung, ebenso wie eine juristische beinahe so viel wert war, wie Land zu erben. Aber keß waren sie schon, diese kleinen Herren, und kannten keinerlei Achtung vor dem heiligen Reich der Küche; ihre Streiche belustigten Margaret sehr, doch wissen durfte das natürlich niemand.
    Margaret nahm sich in acht, nicht zu lachen, als die Köchin heftig schnaufend erschien und sich auf ihren Besen gestützt auf der Schwelle aufbaute. Stattdessen bemühte sie sich um eine reife schauspielerische Leistung als würdevolle Schreiberin, so wie sie jetzt die Feder absetzte. Das war eine Angewohnheit, die sie Bruder Gregory abgeschaut hatte, und sie verfehlte ihre Wirkung durchaus nicht.
    »Mistress Margaret«, sagte die Köchin, während sie respektvoll Feder und Papier vor Margaret musterte, »habt Ihr gesehen, wohin diese bösen Buben gelaufen sind?«
    »Tut mir leid, Köchin, aber ich weiß es wirklich nicht. Wie Ihr seht, war ich

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