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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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werde ich Euch nicht berühren.«
    »Das würdet Ihr wirklich tun?«
    »Mein Ehrenwort, ich schwöre es beim Namen unseres Herrn Jesus Christus.« Kendall sprach feierlich und blickte mir dabei fest in die Augen. Ich sah, daß es ihm mit seinem Versprechen völliger Ernst war.
    »Aber wollt Ihr denn keine Erben?« fragte ich.
    »Ich habe Erben«, gab er zurück. »Zwei erwachsene Söhne, die nur zu froh sein werden, wenn Ihr keine Kinder bekommt.«
    Keine Kinder? Es gab mir einen Stich. Aber es mußte sein, denn es war schon einmal schiefgegangen.
    »Wenn Ihr es schwört, Euer Ehrenwort gebt – dann – dann will ich Euer Angebot annehmen.« Ich blickte ihn forschend an, so als ob ich bei genauem Hinsehen herausfinden könnte, wie lange er wohl sein Versprechen hielt.
    Und Kendall hielt sein Versprechen, wie sich schon bald herausstellte, doch wie alle gewiegten Händler hatte er mir eine Information vorenthalten. In den langen Jahren seiner Witwerschaft und den vielen, die er an sehr merkwürdigen Orten verbrachte, hatte er sich zu einem Meister der geheimen Liebeskunst entwickelt. Und mit Hilfe dieser Geheimnisse wollte er mich am Ende doch noch gewinnen und gleichzeitig seinem Schwur treubleiben.
    Doch davon später. Damals war ich so überwältigt von diesem Austausch von Geheimnissen und dem neuen Wissen um weltliche Dinge, das mir Master Kendall vermittelt hatte, daß ich ihn etwas fragte, was mir schon seit Jahren auf der Seele lag.
    »Sagt mir – nur noch eines, da wir so aufrichtig miteinander gewesen sind.« Ich blickte ihn an. Gewiß, er war der weiseste Mann, den ich meiner Lebtage gekannt hatte: weltläufig, duldsam und tröstlich.
    »Ei, und was wäre das?« fragte er zärtlich.
    »Bloß – bloß etwas, das mir seit Jahren im Kopf herumgeht. Stimmt es, daß Ihr den seligen König gekannt habt?«
    »Recht gut vermutlich. Ich habe ihm allerlei seltene Dinge verkauft, und als er stürzte, konnte ich von Glück sagen, daß ich mit dem Leben und mit meinem Reichtum davonkam.«
    »Also, es ist nur eine Frage. Hat ihn zuviel Baden wirklich so geschwächt, daß er dadurch seinen Thron verlor?«
    Kendall blickte erstaunt, und dann mußte er so furchtbar lachen, daß ihm die Tränen aus den Augen liefen.
    »Margaret, Margaret, mit Euch werde ich mich nie langweilen!« Und dann ergriff er meine Hand und erklärte mir wie einem Kinde:
    »Es stimmt, daß der selige König Edward der Zweite oft badete und man ihn deswegen einen Weichling hieß. Und er trug auch noch – kaum zu glauben – ein Tüchlein bei sich, in das er sich die Nase schneuzte, statt wie ein Christ die Finger zu nehmen! Aber er ging nicht an seinen putzsüchtigen Gewohnheiten, sondern an seiner Liebe zu Männern zugrunde. Vor allem sein Günstling Pierre Gaveston wurde zu mächtig. Die Königin und ihr Liebhaber stürzten den König, und das mit stillschweigender Duldung zahlloser großer Barone. Und als er zugunsten seines Sohnes und Erben abgedankt hatte, da ermordeten sie ihn, ohne daß an seinem Leib eine Spur blieb.«
    »Wie das? Ließen sie ihn verhungern?«
    »Soviel Glück hatte er nicht. Sie stießen ihm einen rotglühenden Schürhaken in jene Liebespforte, von der gerade die Rede war, und verschmorten ihm die Eingeweide.«
    »Barmherziger Jesus!« Ich bekreuzigte mich. Wenn das schon Königen geschieht, was dann wohl erst dem niederen Volk wie uns?
    »Redet mir nie davon. Ich weiß vieles, was anderen unbekannt ist. Mit Euch werde ich immer aufrichtig sein, wenn Ihr den Mund halten könnt. Wissen ist auf dieser Welt gefährlich.«
    »Unwissenheit aber auch, finde ich.«
    »Da habt Ihr durchaus recht. Ich muß mir nur noch schlüssig werden, welcher Zustand mehr Sicherheit bietet.«

    Margaret saß allein über ihrem Buch. Sie war so bei der Sache, daß ihr Gesicht ganz faltig wirkte, und kleine Tintentropfen von der Feder auf ihren Ärmel gespritzt waren. An ihrem rechten Zeigefinder prangte ein großer Tintenklecks und ein kleinerer an ihrem Daumen.
    »Du liebe Zeit«, dachte sie bei sich, »wieviel schwerer ist es doch, alles aufzuschreiben, anstatt es einfach nur zu erzählen. Kein Wunder, daß Bruder Gregory so grämlich dabei war.« Und sie massierte sich die rechte Hand mit der linken, wie sie es ihm abgeschaut hatte. Lion lag schlafend unter dem Tisch und gab im Traum nach Hundeart Laute von sich. Margaret überlegte ein Weilchen, was Hunde wohl träumen mochten, dann welchen Unterricht die Mädchen nachmittags haben sollten,

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