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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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gewißlich nicht mehr wagen, es zu berühren«, sagte Vater Edmund traurig.
    »Aus Angst, es würde Euch verbrennen? Das ist albern.«
    »Nein, aus Angst, es würde nicht brennen. Dann wüßte ich, Ihr hättet recht gehabt und ich wäre nicht der gute Mensch, für den ich mich hielt, als ich es zum ersten Mal anfaßte.«
    »Ach, Vater Edmund.«
    »Ihr seid nämlich nicht wirklich unwissend. Ihr habt nur eben nicht studiert. Das ist der Unterschied. Und Ihr denkt zuviel. Das bringt Euch immer wieder in Schwierigkeiten – das, und weil Ihr den Mund nicht halten könnt.«
    »Ich weiß, es stimmt«, seufzte ich. »Aber das macht nun auch nichts mehr. Meine Kraft ist dahin.«
    »Dann habt Ihr also die Vision nicht mehr?«
    »Ich weiß, daß ich einst eine sah, aber ich kann sie nicht mehr spüren. Sie ist jetzt fort.«
    »Ich bitte Euch um Vergebung, Margaret. Ich bitte demütigst darum, denn das habe ich Euch angetan.«
    Doktor Matteo schnaubte verächtlich. Während unseres Gesprächs war er im Zimmer umhergestrichen. Zunächst hatte er mir den Puls gefühlt, dann herumgestöbert, in Töpfe und Truhen geschaut und unters Bett. Jetzt stand er da und nahm die ganze Szene mit seinen dunklen Katzenaugen in sich auf.
    »Ihr Priester seht in allem gleich eine geistige Krise.« Sein Bart sträubte sich wild. »Ich hatte mir eingebildet, Ihr wäret aufgeweckter als der Rest, aber auch Euch mangelt es an Beobachtungsgabe. Hmpf!« Er sah empört aus.
    »Seht Euch dieses Haar an, wie brüchig.« Er nahm eine lange Haarsträhne vom Kissen und führte es vor, indem er es zwischen den Fingern rieb. Dann ergriff er meine Hand. »Seht Ihr diese Nägel? Die Farbe? Auch sie brüchig. Das Gesicht, seht Ihr das? Die Farbe?« Er faßte mich unters Kinn und drehte meinen Kopf grob hin und her.
    »Ihr hättet mich eher rufen sollen. Sogar diese alte Frau hier, die mir scheint gar nicht so dumm ist, dürfte dergleichen noch nie gesehen haben. Ich schon. In Italien erlebt man das alle Tage.« Er legte eine effektheischende Pause ein. Dieser Mann liebte dramatische Auftritte.
    »Es ist Gift.«
    Vater Edmund und Master Kendall blickten sich an.
    »Normalerweise«, fuhr Doktor Matteo heiter fort, »bedeuten diese Symptome bei einer Frau, daß ihr Mann die Nase von ihren Liebschaften voll hat.« Er kam mir mit seinen stachligen Barthaaren sehr nahe, starrte mir in die Augen und sagte dann jäh:
    »Habt Ihr Liebschaften?«
    Dann richtete er sich auf. »Hmpf. Ich glaube nicht. Außerdem seid Ihr frisch verheiratet. Noch sollte Euer Mann Euch nicht satt haben. So ist alles offen. Wer profitiert von Eurem Tod, bambina? «
    Kendalls Augen wurden schmal. Er wußte es.
    »Dann kommt sie also durch?« fragte er.
    »Durchkommen? Wer redet denn von durchkommen? Normalerweise behandle ich mit Aderlaß und Abführmitteln. Das reinigt Blut und Eingeweide. Doch dazu ist es jetzt zu spät. Sie ist zu schwach für einen Aderlaß. Versucht viel Wasser zu trinken und kein vergiftetes Essen zu Euch zu nehmen. Vielleicht hilft es ja, schaden tut es jedenfalls nicht. In der Regel ist in diesem Stadium alles vorbei – Tage, Stunden, wer weiß?« Er hob die Schultern. »Sie sollte lieber ihren Frieden mit Gott machen. Es dürfte an der Zeit sein.« Er näherte sich dem Bett und beugte sich über mich.
    »Und Ihr, bambina , solltet Euch nicht wegen geistiger Krisen grämen. Ich habe selber einige ekstatische erlebt. Beim nächsten Mal kriecht und bekennt Ihr nicht. Trotzt ihnen! Steht zur Wahrheit! Das ist ein herrliches Gefühl! Ei, als sie meinen ersten Meister, Bernardo von Padua, verbrannten, da stapelten sie alle seine Bücher rund um den Scheiterhaufen. Als die Flammen emporschlugen, rief er: ›Ich trotze Euch! Die Wahrheit könnt ihr nicht verbrennen.‹ O, ich sage Euch, das ist der einzig angemessene Tod für einen Wissenschaftler. Perfetto! Ein herrlicher Märtyrertod für die Wahrheit! Als die riesigen Rauchwolken emporstiegen, flammten seine Haare auf wie ein Heiligenschein! ›Wahrheit!‹ rief er! Also, das nenn ich mir einen Tod!« Doktor Matteo hatte sich sehr ereifert. Er fuchtelte mit den Händen und wollte einen Eindruck von den brausenden Flammen vermitteln, und dann hob er sie, um zu veranschaulichen, wie der Rauch geradewegs zu Gottes Richterstuhl aufgestiegen war. Alsdann beruhigte er sich wieder und musterte mich mit braunen Knopfaugen.
    »Sagt Eure Gebete und eßt nichts Bitteres. Morgen bin ich wieder da und sehe nach, ob Ihr noch am Leben

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