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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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seid.«
    »Ich – ich dachte, meine Traurigkeit macht, daß alles so bitter schmeckt«, sagte ich matt.
    »Natürlich. Hach! Frauen!« und damit wandte er sich zum Gehen, überlegte es sich jedoch wieder. Stattdessen ging er ums Bett herum, wo Hilde stand, und sagte gänzlich gelassen:
    »Ihr, die alte Frau da, seid Ihr die Lehrmeisterin?«
    »Die Lehrmeisterin?« fragte sie.
    »Ja, die Lehrmeisterin der Kleinen. Sie sagt, sie hat alles bei Euch gelernt. Wir hatten ein paar ausführliche Unterhaltungen, sie und ich. Ich bin dabei, eine Liste über die Wirkung der in England heimischen Pflanzen aufzustellen. Ich würde Euch gern einmal besuchen und mit Euch über Kräuterarzneien sprechen.« Hilde willigte mit einem wortlosen Nicken ein.
    Dann verließen sie das Zimmer, während Vater Edmund mir die Beichte abnahm und mir ein Tuch für die Kommunion unters Kinn legte. Als sie zurückkehrten, begann er mit den Gebeten, und ich merkte, wie sich das Geräusch der gemurmelten Responsorien allmählich immer weiter entfernte.
    Der Tod, oder zumindest der Tod im Bett, hat etwas sehr Interessantes. Zunächst wehrt man sich schrecklich. Es ist, als glitte man in einen glitschigen, abfallenden Tunnel ohne Handlauf hinein. Man krallt nach allem, krallt verzweifelt, schöpft wild, verzweifelt Atem, so als könnte man damit das sterbende Feuer im Inneren wieder entfachen. Doch es hilft nicht. Drinnen geht etwas entzwei, Blut kommt einem aus dem Mund, rinnt auf das Kissen. Man schmeckt nicht einmal mehr den salzigen, metallischen Geschmack und sorgt sich auch nicht um die Bettwäsche. Der Schmerz entfernt sich wie ein Ball, der in der Luft schwebt und nicht mehr zu einem gehört. Ganz vorbei, das Leben, und es macht auch nichts mehr, weil jetzt alles anders ist – er war, ja, ich fand, er war sanft. Ich ließ mich in den Tod fallen, als wäre er etwas Sanftes, Liebliches. Aus tausend Meilen Entfernung schienen sie die Sterbeliturgie zu beten. Wie albern. Es schien ihnen allen sehr nahezugehen. Mir einst auch – dergleichen bekümmerte mich immer. Das war, als ich mich noch um ein Fleischklümpchen namens ›Margaret‹ sorgte.
    Und auf einmal schwebte ich über dem Klümpchen und blickte nach unten. Alberne, alberne Menschlein! Dort lag die armselige Hülle einer Frau. Sie sah furchtbar, entsetzlich jung aus. Aber unter dem Gesicht ahnte man schon die Umrisse des Schädels, er überschattete die Wangen und die tiefen, eingesunkenen Augen – ein Schatten von jener seltsamen, grünlich blauen Farbe, wie sie alte Prellungen aufweisen. Kleine Puppengestalten in dunklen Gewändern standen um sie herum, und einer hatte gerade mit dem Daumen ein Kreuz auf ihrer Stirn gemacht. Lebt wohl, ihr närrischen Fleischklümpchen – ich muß emporsteigen.
    Eine Stimme, eine Stimme wie ein brausender Wasserfall, dröhnte rings um mich in der lichten Leere.
    »Margaret, du darfst noch nicht kommen. Du mußt zurückkehren.«
    »Nie, nie und nimmer, laß mich jetzt kommen!«
    »Zurück, du hast noch eine Aufgabe zu erfüllen.«
    »Bitte nicht!« gellte ich in die Leere.
    »Du hast eine Aufgabe von vielen Jahren vor dir. Du wirst es nicht bedauern. Deine Zeit ist noch nicht reif, du darfst noch nicht kommen.«
    »Ich will aber; ich bin fertig, und ich komme doch«, rief ich ins Licht zurück.
    »Warum mußt du immer so störrisch sein und soviel reden? Hast du denn immer noch nichts gelernt? Zurück mit dir!«
    »Niemals!« schrie ich aus Leibeskräften, und dann wirbelte es mich auch schon um und um furchterregend nach unten.
    Was für eine bittere Enttäuschung mit unsäglichen Schmerzen aufzuwachen! Ich war wieder in meinem armseligen Leib, der Schmerz knebelte und fesselte mich und zerriß mich von innen. Ich wußte nicht, wo genau der Schmerz saß. Er war einfach überall. Es war der Schmerz, am Leben zu sein. Schluß mit dem Fliegen! Ich kam mir betrogen vor. Ich hielt die Augen geschlossen. Ich hörte, wie mir das Blut in den Ohren rauschte, und die schwachen, keuchenden Atemzüge, mit denen mein Leib für mich atmen wollte. Manchmal hielt jemand meine Hand. Manchmal auch nicht, doch das machte nichts. Ich lauschte nur auf das gräßliche Gerassel, mit dem mein Leib lebte, lebte.
    Einmal hörte ich eine Stimme sagen:
    »Also, sie lebt immer noch, wie?«
    Ein ander Mal versuchte eine Stimme das Rauschen in meinem Ohr zu übertönen, ging aber beinahe unter:
    »Die Küchenmagd hat gestanden. Hilde hat sie dabei erwischt, und sie hat sich im

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