Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
Vom Netzwerk:
Gefängnis erhängt, ehe man sie zum Reden bringen konnte.«
    Wen scherte das noch?
    »Es ist alles vorbei, sie wird wieder gesund«, sagte jemand.
    Nichts ist vorbei: ich kann nicht mehr fliegen. Du häßlicher, häßlicher Leib. Du ziehst mich nieder und macht dieses brausende, rauschende Geräusch.
    Augen wollen sich nicht öffnen. Macht nichts? Wer will dort oben noch sehen?
    Und dann siegte eines Tages das Leben. Ich schlug die Augen auf und sah, daß Hilde im verdunkelten Zimmer eingenickt war. Ich schloß sie wieder, doch dieses Mal um zu schlafen, richtig zu schlafen.
    Am Nachmittag sah ich mit einem Auge Licht. Es war mit dem Auge, dessen Lid jemand mit einem schwarzen, gesträubten Bart hochhob. »Ha! Ich glaube, sie lebt. Bei guter Pflege wird sie wahrscheinlich wieder gesund.«
    Meine Lippen versuchten, Worte zu formen, doch kein Laut kam heraus.
    »Also? Nur heraus damit, man kann Euch nicht hören«, sagte der Bart.
    »Ich werde nie wieder Angst vor dem Tod haben«, flüsterte ich. »Er ist sanft.«
    »Als ob ich Euch das nicht schon gesagt hätte? Hach! Der Tod ist auf seine Art genauso herrlich wie das Leben! Man muß ihn – zu würdigen wissen!«
    Ein Wahnsinniger dachte ich. Ich kannte nur einen solchen Wahnsinnigen.
    »Doktor Matteo«, sagte ich langsam und deutlich.
    »Ei, sie spricht ja! Sie erkennt Euch! Ein Wunder! Ich glaube, sie wird gesund. Ich lasse eine Dankesmesse lesen. Prächtig, prächtig!« Dann beugte sich Roger Kendall über mich und sagte: »Du, wir feiern deine Genesung mit einem Fest, ganz üppig und wunderschön!«
    »Ach, Hausherr, die Mühe könnt Ihr Euch sparen. Ihr bekommt nur wieder die Gicht.«
    »Ei, das ist meine alte Margaret – meine brave Margaret!« rief er aus. Als der Doktor ging, saß der alte Roger Kendall bei mir, bis mir die Augen zufielen.
    Ich schlief ein Weilchen. Als ich erneut die Augen aufschlug, da hatte ich etwas auf dem Herzen. Es mußte heraus.
    »Ich glaube, Ihr müßt mich wirklich – gernhaben – Ihr hättet mich doch – aufgeben können«, brachte ich mit meinem bißchen Kraft heraus.
    »Dich aufgeben? Aufgeben? Nachdem ich soviel intrigiert, soviel Pläne geschmiedet hatte, um dich zu bekommen? Margaret, was meine Schätze angeht, da bin ich selbstsüchtig. Die gebe ich nie und nimmer auf.«
    »Ihr findet also ehrlich, daß ich ein Schatz bin?«
    »Aber gewiß doch. Ein echter Schatz. Als ich dich gesehen habe, da wollte ich dich schon haben. Wenn ich jung wäre, ich hätte dich so verführerisch umworben, daß du nicht hättest widerstehen können. Aber alles, was ich jetzt noch zu bieten habe, ist Geld, und ich fürchtete mich davor, ausgelacht zu werden. Gerade du durftest mich nicht auslachen! Dann warf dich mir die Göttin Fortuna in Gestalt eines verräterischen Blutsaugers sozusagen in die Arme. Du glaubst doch wohl nicht, daß ich dich deswegen verachte? Margaret, du wirst geliebt. Von mir geliebt, wenn du es doch nur zu schätzen wüßtest!« Ich blickte ihm in die Augen. Es war ihm ernst. Das rührte mich zutiefst.
    »Gebt mir Eure Hand, daß ich sie küsse, mein wahrer, guter Freund. Ich weiß Eure Liebe wohl zu schätzen. Im Traum wäre ich nicht darauf gekommen, daß jemand so Liebes und Gutes mich lieben könnte. Ich habe es nicht für möglich gehalten.« Mein Herz floß über vor Zärtlichkeit. Sitzen konnte ich noch nicht, aber ich nahm die Hand, die er mir hinstreckte. Eine schreckliche Narbe lief über den Handrücken. Ich küßte die Innenfläche und dann die Narbe, ach, so sanft. Dann legte ich sie an meine Wange und schlief ein.
    An jedem Tag meiner Genesung brachte er mir irgendein kleines Geschenk. Einen Blumenstrauß, ein Band, irgendeine mit erlesenem Geschmack und Sorgfalt ausgewählte Kleinigkeit. Und wenn er so jeden Tag kam und meine Hand hielt, fiel mir auf, wie etwas Wunderbares mit ihm vorging. Sein Gesicht strahlte vor Freude, und mit jedem Besuch schien er ein wenig jünger zu werden, so als ob ihn die Liebe erneuerte. Er kleidete sich jetzt mit großer Sorgfalt; verschwunden war das soßenbekleckerte Zeug, das ich immer an ihm gesehen hatte. Jetzt zeigte er eine Vorliebe für tiefdunkle, satte Materialien, die oftmals mit dunklem Pelz gefüttert und kostbar bestickt waren. Seine schweren Gewänder strahlten jetzt Würde aus, und seine goldenen Ketten und Ringe wollten nicht mehr protzen, sondern waren sorgfältig zusammengestellt und zeugten von angeborener Eleganz und Geschmack. Sein Gesicht – jung

Weitere Kostenlose Bücher