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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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brauchst.«
    »Nur einmal in den Arm nehmen, David – danach habe ich mich so lange, lange gesehnt«, gab ich zurück, und er legte mir verlegen die Arme um die Schultern.
    David und ich saßen zusammen in der Fensternische. Es war fast wie in alten Zeiten. »Dir geht es hier gut, Schwester«, sagte er und blickte auf die verglasten Fenster, den gemusterten Teppich und die blühenden Rosen draußen.
    »Mein Mann gibt mir alles.«
    »Dann mußt du ja glücklich sein«, sagte er, aber seine Augen blickten traurig.
    »Glücklich? Ja, ich bin wohl glücklich. Aber ich wollte frei sein. Und das ist etwas anderes.«
    »Das tut mir leid.«
    »Es muß dir nicht leidtun, David. Ich muß dir überhaupt nicht leidtun. Für mich ist alles gar nicht so schlecht ausgegangen. Sogar dich habe ich wiedergefunden. Das hat mich so gefreut, selbst wenn ich dich nicht sehen durfte. Ich wollte nämlich, aber ich dachte, ich würde dir damit deine große Laufbahn zerstören. Und darum habe ich mich nicht blicken lassen.«
    »Das ist mir durchaus klar. Darum bin ich ja auch zu dir gekommen. Ich muß dir etwas sagen, Margaret.«
    »Doch hoffentlich nichts Schlimmes«, erwiderte ich. Sein Gesicht sah so ernst aus.
    »Nein; ich wollte mich nur entschuldigen.«
    »Bei mir brauchst du dich nie zu entschuldigen, David. Ich muß mich bei dir entschuldigen.«
    »Nein, begreifst du denn nicht, Margaret? Als ich dich dort als Häufchen Unglück sah und merkte, wie Vater Edmund dich vorsätzlich demütigte, da war mir unbeschreiblich scheußlich zumute. Es ging dabei um etwas, was vor langer Zeit war. Ich – ich habe mich geschämt, daß ich dir nie das übrige Alphabet beigebracht habe.«
    Ich nahm seine Hand in meine. Wie innig ich David doch liebte! Mein Zwilling, meine andere Hälfte mein Leben lang. Wie gern hätte ich ihn getröstet.
    »Aber das ist jetzt alles vorbei. Gräm dich nicht weiter über die Vergangenheit. Mir geht es gut, wie du siehst, und mein Mann hat versprochen, mir irgendwann, wenn ich nicht mehr so müde bin, Leseunterricht geben zu lassen. Ich lerne es schon noch, und dann schreibe ich dir eigenhändig einen Brief. Dann hast du Freude an mir, David.«
    »Schick bloß nicht überall Briefe hin. Die landen doch nur in den Händen der bischöflichen Kleriker. Hast du das vergessen? Im Palast des Bischofs bekommen wir Berichte über dich. Berichte über dich und noch eine Menge andere Leute.«
    Ich dachte ein Weilchen darüber nach. Einzusehen war das nun wirklich nicht, aber David hatte recht.
    »Ach, David, es ist alles so traurig. Ich wünschte, es gäbe weit, weit weg im Meer eine Insel, auf der ich leben und denken könnte, wie ich wollte.«
    »Eine solche Insel gibt es nicht, Margaret, und wenn es sie gäbe, würden die Menschen sie zu genau dem machen, was wir hier haben. Du schaffst es nicht, Margaret. Du mußt leben wie alle Übrigen.«
    »Wenn du ein lieber Bruder wärst, dann würdest du mich nicht daran erinnern«, sagte ich mit einem Lächeln.
    »Das gleicht dem, was ich auch schon länger denke, Margaret. Ich glaube, irgendwo bin ich in die Irre gegangen – nicht arg, aber es hat zu Weiterungen geführt.« Sein Gesicht sah auf einmal abgespannt und traurig aus.
    »Du hast doch eine wunderbare Laufbahn vor dir – zerstöre die jetzt nicht durch Zweifel«, drang ich in ihn. Aber er fuhr fort:
    »Ich habe eben wieder an früher denken müssen, Margaret. Es hat damit angefangen, daß ich nach deiner Befragung dem Bischof schöntun mußte. Ich habe ihm erzählt, was du alles getan hast, als Mutter gestorben war, und wie gut du zu mir gewesen bist. Er wurde so richtig stolz auf sich, daß er dich hatte laufen lassen. Aber dabei fielen mir auch wieder ein paar Gedanken ein, die ich damals hatte, und da ging es mir immer schlechter. Also habe ich ihn überredet, mich ziehen zu lassen. Ich möchte unter den Armen arbeiten und wie Christus leben und umherwandern – zumindest für eine Weile, bis ich mir im klaren bin, was richtig ist.«
    »O David, das ist aber gefährlich – man könnte dir etwas antun. Und du mußt noch Großes vollbringen.«
    »Du meinst, als Fürst zurückkehren? Da bin ich mir gar nicht so sicher, ob das gelingt. Genauso wenig wie du frei sein kannst.«
    »Aber der Bischof ist doch nicht böse auf dich, oder?«
    »O nein, er sah ganz gefühlsduselig aus und gab mir seinen Segen. Er sagte, als er jung war, hätte er das auch getan und würde es gern noch einmal tun.« O David, dachte ich. Was man

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