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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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mehr davon abwenden. Nach und nach nahm innerhalb des kaum sichtbaren Scheins eine Form Gestalt an. Ein Schatten, der sich innerhalb des sanften Scheins hin und her bewegte wie ein Faltenwurf – eine Hand, ich konnte eine Hand oder so sehen, die schlaff in den Falten herabhing. Und während ich noch starrte, wehten die Falten auf und enthüllten den gräßlichen, aufgedunsenen, hängenden Kopf. Es war die Leiche einer erhängten Frau, die sacht am Dachbalken schaukelte!
    Um den armen, erdrosselten Hals lag der Strick als dünner Lichtstrahl. Langes, aschblondes Haar klebte an den Schläfen und umwehte die Schultern. Eine Frau, heiliger Jesus! War das ich? Nein, das durfte ich nicht sein, ich konnte es nicht sein – denn unten am Kinn war ein kleines Grübchen. Ich befühlte mein eigenes Kinn – es war doch glatt und schmal. Ich sah meine Hände an – sie waren nicht so kindlich wie die Patschhand zwischen den weichen, schattenhaften Falten dort oben. Nein, das war nicht ich, auch wenn es wie ich aussah. Das war keine Vision meines eigenen Endes sondern die vom Ende eines anderen Menschen.
    Das Rauschen, das meine Ohren in der Stille machten, klang wie stummes Weinen. Wenn das ein Geist war, dann war er mit einer bestimmten Absicht gekommen. Beim Schaukeln drehte sich der Körper, und die glasigen Augen richteten sich auf mich. Ich schlug ein Kreuz.
    »Ich will für dich beten«, flüsterte ich ins Dunkel, »ich will eine Kerze für dich anzünden.«
    »Bete nicht für mich. Es gibt viele, die für mich beten. Bete für dich selber. Du bist in einem Haus des Todes. Nur sterbend wirst du es verlassen. Bete für dich selber, damit du nicht der ewigen Verdammnis anheimfällst wie ich.« Ihre sanfte Stimme war wie ein dringliches Flüstern drinnen in meinen Ohren. Denn wenn ich sie auch hörte, so war es doch zur gleichen Zeit vollkommen still in der Schwärze des Zimmers. Wie kann man hören und doch nichts hören? Wer war diese Frau, diese Mädchenfrau, und wieso war sie verdammt? Das Seil entwirrte sich langsam, und die Leiche schaukelte wieder. Das Haar wehte ihr um den Kopf, gleichsam wie von einem unsichtbaren Wind hochgehoben, und der Kopf richtete sich auf, als lebte er. Das strahlende Antlitz eines hübschen Mädchens blickte mir mitten ins Gesicht. Ein ebenmäßiges, bezauberndes Antlitz mit einem gefälligen, kurzen Stupsnäschen und einem ausgeprägten Kinn mit einem Grübchen unten, wie bei einem niedlichen Säugling.
    »Ich habe mich erhängt«, sagte das holde Kinderantlitz, »weil ich meine Liebe dem Bösen in Gestalt eines Menschen geschenkt habe.« Der sanfte Schein verblaßte, und der fadengleiche Lichtstrahl des Seils verschwand völlig.
    »Ich bin gekommen, um dich zu warnen. Du bist jetzt mit ihm vermählt, und du kannst deine Seele nur mit Gottes Hilfe retten.«
    Das Dunkel verschluckte die sich drehende Gestalt, während mich das Entsetzen überwältigte. Mein Leben war verspielt, und nun noch meine Seele selbst in Gefahr! Kein Insekt, sondern ein Dämon aus der Unterwelt! Das ließ die Dinge in einem völlig anderen Licht erscheinen. Ohne es zu wollen, hatte man mich mit einem Dämon verheiratet. Ein Dämon, der unter Menschen als achtbar galt. Was hatte das Mädchen doch gesagt? Daß sie ihn geliebt, sich ihn gewählt hatte. Darin unterschieden wir uns wohl. Ich haßte ihn, hatte ihn immer gehaßt. Ich hatte gefleht, mich vor ihm zu bewahren, doch er hatte alle geblendet. Daß er ein Dämon war, erklärte alles. So also hatte er sie hinters Licht geführt, sogar meine Mutter und den Priester. Aber jetzt war ich lebenslang mit einem Dämon verheiratet. Warum hatte bloß niemand auf mich gehört?
    Aber als ich ihn mir am nächsten Tag genau ansah, schien sich mein Mann nicht mit Werken des Satans zu befassen. Ja, er wirkte eher sehr zufrieden mit sich selbst, denn es war Nachricht eingetroffen, daß er seine Waren am Morgen des nächsten Tages erwarten dürfe. Am Nachmittag verschlechterte sich seine Laune, weil wir zum Hochzeitsfest der Tochter von William le Draper geladen wurden.
    »Seine Art, sich damit zu brüsten, daß er drei große Söhne hat«, bemerkte mein Mann verärgert.
    »Aber ehrt er damit nicht auch seine Tochter?« fragte ich.
    »Pah! Er gibt nur damit an, daß er einen Schwiegersohn sein eigen nennt, der schon sein Glück gemacht hat.« Es wurmte meinen Mann, daß er nur einen Sohn hatte, und einen Simpel obendrein. Doch noch mehr erboste ihn die Überlegung, daß William le

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