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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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seid ihr zu spät gekommen. Vergangene Woche hat Mylord oben auf dem Podest Sir John den Arm gebrochen, weil dieser ihn in den Ausschnitt seiner Tochter gesteckt hatte. Das nenne ich mir eine Kurzweil.« Ich lächelte ängstlich und sagte aus Höflichkeit:
    »Ich bin noch nie in solch einem großen Haus gewesen. Sind sie alle so?«
    »O ja«, sagte die Frau. »Da kann keine Langeweile aufkommen. Viel zu essen und zu trinken – obwohl die besten Sachen oben an den Tisch gehen. Wenn einer das weiß, dann ich – ich helfe nämlich im Anrichteraum – und viele Lustbarkeiten, wenn Mylord daheim ist. Turniere, Bälle. Und viel wildes Blut. Laß dir das gesagt sein, du siehst mir nämlich jung und dumm aus. Geh auf dieser Burg nirgendwo allein hin. Das tun nicht einmal die Damen. Hier lauern zu viele Männer auf ein bißchen Spaß.« Dann lachte sie wieder. »Du würdest staunen, was sich so alles tut! Hier läßt sich nichts geheimhalten, es sei denn, wir alle wollen es. Die Damen da, wenn du wüßtest, was die so alles mit den Pagen von Mylord treiben! Ha! Man ißt am besten, wenn man in der Küche dient, aber den meisten Spaß hat man, wenn man in der Kemenate arbeitet! Das findet ihr schon noch schnell genug heraus, ihr beiden Wehmütter.« Hilde und ich nickten aus Höflichkeit. Die Frau fuhr fort:
    »Ihr sollt also den Sohn von Mylord holen? Na, dann viel Glück. Als sein letzter Sohn gestorben ist, da hat er die Dienerinnen zu Tode prügeln lassen. Das arme Würmchen, das lebte nicht mal zwei Tage. Ganz schön gewitzt von Mutter Alice, daß sie krank geworden ist und sich entschuldigen ließ. Die ist auch nicht so alt geworden, weil sie dumm war, das könnt ihr mir glauben.« Dann lachte die gräßliche Frau wieder, während mir das Herz bis in die Schuhe rutschte. In dieser Nacht schliefen wir nicht gut.
    Doch der Morgen kam, wie er es immer tut. Und am Morgen sieht alles ganz anders aus – vor allem, wenn er so kalt, klar und schön wie jener heraufdämmert. Mutter Hilde ging wieder Peter besuchen, der sich im Stall nützlich machte, und ich trödelte herum, betrachtete unsere neue Umgebung und freute mich darüber, daß inmitten aller Not die Sonne immer wieder aufgeht, der Hahn kräht und die Vögel singen. Also, kann sein, das ist übertrieben, denn außer Krähen und Spatzen sind um diese Jahreszeit alle Vögel fortgezogen, und keine dieser beiden Arten ist für ihren holden Gesang berühmt. Dafür gab es sie in großen Scharen, sie hüpften umher und untersuchten die heißen, dampfenden Dunghaufen auf dem vereisten Boden nach wohlschmeckenden Leckerbissen. Die Arbeit war im vollen Gange: Der Helfer des Schmieds hatte das abgedeckte Feuer mit dem Blasebalg wieder zu heller Glut entfacht, und ich konnte sie singen und hämmern hören. Ich konnte das ›ratsch, ratsch‹ der Webstühle hinter den offenen Türen hören, und sah den Schildknappen zu, die jetzt mit militärischen Übungen begannen, nachdem sie ihrem Herrn beim Aufstehen aufgewartet hatten. Wie könnte sich an solch einem Morgen wohl Böses zutragen?
    Hilde eilte geschäftig mit einer Einladung herbei. Die alte Sarah, die Frau des Stallknechts, brannte auf Klatsch aus der Wochenstube und wollte mit uns frühstücken.
    »Hör zu, Margaret«, ermahnte mich Hilde, »das ist eine gute Gelegenheit, Dinge herauszubekommen, die uns helfen können. Wehe, wenn du den Mund zu weit aufmachst, und fang um Himmels willen nicht an, so in die Luft zu reden wie du es immer tust.« Zu ärgerlich aber auch! Da hatte ich seit Wochen keine Stimmen mehr gehört, und noch immer rieb mir Hilde das unter die Nase. Aber schon bald taten wir uns am Feuer an den Haferpfannkuchen und dem Ale der Gevatterin Sarah gütlich und hörten von Mylords vier Töchtern, ihren hervorragenden Eigenschaften und dem Los des einzigen Sohnes.
    »Die Wehmutter war neu, denn Mutter Alice lag mit einem schrecklichen Durchfall danieder und konnte nicht kommen. Diese Frau hat mit Zaubersprüchen gearbeitet und sie dreimal gesungen, damit das Kind kam. Was es auch getan hat, nur daß es nie richtig gebrüllt und geatmet hat. Es kränkelte, und da hat Vater Denys gesagt, das käme davon, daß sie es mit Teufelskünsten geholt hätte. Es schwand schnell dahin. Also sagte Mylord, die Amme hätte giftige Milch. Er schwor, sie würde nie wieder ein Kind vergiften, und nach der Beerdigung starb sie an den Schlägen, die er ihr verabreichen ließ. Er ist ein harter Mann, Mutter Hilde. Ich habe die

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